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»Matthäus 27, Vers 46: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Es war dieser eine Satz, den Vater Bölke beinahe jeden Sonntag in seine Predigt einbaute, der Lena jedes Mal berührte, wenn sie ihn hörte.

»So erinnert euch an diese Worte und vergesst nicht, dass selbst in der größten Finsternis Gott immer bei uns sein wird. Denn wie heißt es in Psalm 139? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.«

Vater Bölke machte eine kurze Pause und ließ seinen Blick durch das traurige Häufchen von Gemeinde streifen, das sich zur Messe versammelt hatte. Dann fuhr er fort.

»So lasst uns nun unseren Glauben bekennen und dazu aufstehen.« Er wartete einen kurzen Moment; dann begann er vorzusprechen: »Ich glaube an Gott, den Vater...«

Der Besuch der heiligen Messe war Pflicht für die Kinder des Trierer Matthäusheims. Das städtische Kinderheim hatte eine Kooperation mit dem Bistum und diese sah eine christliche Bildung vor, was bedeutete, dass alle Kinder zur Messe gingen und zusätzlichen Religionsunterricht von Vater Bölke bekamen. Dafür war Vater Bölke auch mehr oder weniger der einzige, der sich wirklich um die Kinder sorgte, wenn er Dienstags, Freitags und Sonntags ins Heim kam, und mit ihnen über Gott und die Welt sprach. Er nahm sich Zeit für das Heim, denn es stellte mit 150 Kindern mehr als zwei Drittel seiner Gemeinde in der Sonntagsmesse dar.

Wenn Vater Bölke aber am späten Nachmittag wieder aufbrach, dann lebten die Kinder wieder in einem Elend, aus dem sie nur Gott retten konnte. Dabei war das Matthäusheim noch nicht einmal das größte Heim. Dennoch lebten hier 150 Kinder, wo eigentlich nur Platz für 50 Kinder war - und Personal für 30.

Lena lebte hier schon solange sie denken konnte. Sie lebte in einem Zimmer mit fünf anderen Mädchen und sie hatten das Glück, dass sie sechs Matratzen hatten nicht nur vier. Sie waren ein eingeschworenes Team im Zimmer, aber Lenas beste Freundin im Zimmer war Hanna und Hannas beste Freundin war Lena. Hanna war blond, so wie Lena und sie spielte gerne Fußball. Auf dem Schulweg kickten sich Lena und Hanna manchmal Steine oder Kastanien zu - nicht weil Lena auch gerne Fußball spielte, sondern weil alles einfach besser war mit Hanna.

Die meisten Kinder im Heim kannte Lena schon ewig. Manchmal kam noch ein neues Kind dazu - entweder, wenn ein Kind adoptiert wurde, oder wenn die Heimleitung ein neues Kind aufnehmen musste, weil die anderen Heime auch alle voll waren. Der größte Teil der Kinder war aber im Heim bis man erwachsen wurde und mit der Schule fertig war. Es gab sogar Kinder im Heim, die noch mit 19 hier lebten.

Adoptiert werden. Davon träumten hier alle. Jeder wollte der nächste sein, der in ein Auto vor dem Heim stieg und nie wieder zurückkommen musste. Adoptiert zu werden war die göttliche Errettung, von der Vater Bölke immer sprach, da waren die Kinder sich einig, aber je älter man wurde, desto unwahrscheinlicher wurde eine Adoption. Kein Kind, das älter als 5 war, war jemals adoptiert worden und Lena war schon 12.

Trotzdem hoffte sie, doch die erste Auserwählte zu sein, die dennoch adoptiert werden würde. Jeden Abend malte sie sich das Auto aus, das sie abholen würde: Ein weißer Mercedes, ein Cabrio, eine nette Frau mit genauso blonden Haaren, wie Lena sie hatte, würde darin sitzen, sie würde eine Brille tragen und ein Mann würde aussteigen und Lena in Empfang nehmen. Und er würde sie anlächeln aus seinen warmen, braunen Augen, die Lena morgens im Spiegel sah und Lena dürfte auf der Rückbank in der Mitte sitzen und das Radio anmachen. Und dann würden sie ihr Lieblingslied spielen: Free von der dänischen Neopopgruppe ›Vikingsmaiden‹.

Gemalt hatte Lena dieses Auto schon oft, dabei hatte sie es noch nie gesehen. Aber sie wusste, dass es dieses Auto gab, und dass diese beiden Menschen sie eines Tages abholen würden. Vater Bölke hatte gesagt, dass Gott ihr bestimmt einen Hinweis damit geben wollte, dass er ihr gezeigt hatte, wie dieses Auto aussieht. Und Lena konnte sich einfach nicht vorstellen, dass dieses Zeichen etwas anderes bedeuten konnte, als dass sie irgendwann in diesem Auto abgeholt werden würde. Auch wenn sie dieses Auto jetzt schon seit 9 Jahren malte. Immer und immer wieder.

Als Vater Bölke an diesem Abend ging, lächelte er Lena beim Abschied herzlich an und sagte: »Junge Frau; Mein Gefühl sagt mir, dass wir uns nicht so bald wiedersehen. Ich wünsche dir alles, alles Gute.« Dann trat er zu Lenas Sitznachbarin und ließ Lena in einem Gefühlschaos zurück.

Den ganzen Abend und die ganze Nacht konnte sie an nichts anderes denken, als an das weiße Auto, das morgen kommen würde. Und als am nächsten Morgen Steffi, die Älteste im Heim, zum Wecken durch die Zimmer ging, war Lena sofort hellwach und auf den Beinen. Sie zog sich ihre schönsten Sachen an und versuchte, ihre langen, etwas verfilzten Haare irgendwie schön zu machen, was ihr aber nicht wirklich gelang.

Beim Frühstück war Lena so aufgeregt, dass sie kaum einen Bissen herunterbrachte. Stattdessen beobachtete sie die Zeiger der Wanduhr, die langsam voranschlichen. Der Stundenzeiger funktionierte nicht mehr, daher musste man mit der Sonne von draußen schätzen, wie spät es denn nun war, aber der Sekundenzeiger lief noch flüssig und an diesem Morgen musste Lena nur wissen, dass die Sekunden verstrichen und nicht, wie spät es war.

Nach dem Frühstück mussten alle schnell auf ihre Zimmer, um ihre Schulsachen zu holen. Lena trödelte absichtlich, in der Hoffnung, ihre neuen Eltern würden schon vor der Schule kommen. Sie trödelte auf dem Weg zur Küche, wo sie ihr Geschirr hinbrachte, sie trödelte auf dem Weg zum Zimmer, sie trödelte beim Packen ihres Rucksacks und sie trödelte auf dem Weg nach unten. Und sie hatte Erfolg.

Unten am Empfang stand ein freundlich aussehender Mann in einem feinen Anzug und schicken Lederschuhen. Noch unterhielt er sich mit Frau Braun, der Empfangsdame, doch als Lena auf halber Treppe war, schauten beide zu ihr auf.

»Da bist du ja, Lena«, rief Frau Braun übertrieben freundlich und sprang auf. »Herr Wagner, das ist Lena; Lena, das ist Lukas Wagner, dein neuer Vater.«
»Hallo Lena«, sagte nun auch Lukas Wagner und lächelte freundlich. »Du kannst mich Lukas nennen. Meine Frau Mia wartet im Wagen auf uns.«
»Nun Lena«, unterbrach ihn Frau Braun, »lass deinen Rucksack hier und pack oben schnell deine Sachen zusammen. Dann kannst du gleich mit Lukas und Mia mitfahren.«

Lena hatte derweil nur beschämt dagestanden und Lukas Wagner mit verhaltener Neugier gemustert. Jetzt drehte sie sich wie angestochen um, ließ ihren Rucksack fallen und lief nach oben zu ihrem Zimmer. Ganz tief in sich drin spürte Lena ein gewisses Mitgefühl für Lisa, Becca, Hanna, Sarah und Lucy, die mit ihr im Zimmer gewohnt hatten. Ganz besonders für Hanna tat es ihr leid, weil sie ihre beste Freundin im Stich ließ. Heute Abend, wenn sie aus der Schule kämen, wäre sie einfach weg. Also hinterließ Lena noch zwei Zettel, auf den sie hektisch einen Abschiedsgruß kritzelte. Einen für alle und einen für Hanna.

Hallo Leute.

Ich wollte nur noch Tschüss sagen, denn ich wurde adoptiert. Mein neuer Vater heißt Lukas Wagner und seine Frau heißt Mia. Mir geht es gut und ich bin schon sehr aufgeregt. Ich hoffe, ihr vermisst mich nicht zu sehr und ich hoffe, dass wir uns mal wiedersehen. Am liebsten, wenn ihr alle neue Familien habt.

Ich hab euch lieb,
Gott errette euch,

Lena

Liebe Hanna,

Ich wünschte, wir könnten dich auch mitnehmen. Ich will ohne dich eigentlich gar nicht von hier weg, aber wenn ich draußen bin, dann sorge ich dafür, dass du auch adoptiert wirst. Versprochen!

Ich werde dich ganz, ganz doll vermissen.
Ich hab dich lieb,

Lena

Dann packte Lena all ihre Habseligkeiten zusammen, ihre Klamotten, ihre Bilder und ihre Stifte, die sie nie mit in die Schule nahm. Alles packte sie in eine Tasche, die sie sich über die Schultern legte, damit sie sie die Treppe hinuntertragen konnte. Unten wartete noch Lukas Wagner und lächelte sie an, als sie kam.

»Na dann kann es jetzt losgehen, oder? Auf geht's nach Hause«, rief er und Lena musste lachen.
Frau Braun öffnete die Tür, Lukas Wagner nahm die große Tasche und Lena ihren Schulrucksack und dann ging es los. Das letzte, was Lena vom Matthäusheim sah, war das erste ehrlich erfreute Lächeln, das Lena je an Frau Braun gesehen hatte.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt