Eine Flucht zu planen war schwieriger als Lena es erwartet hätte und ihr Plan scheiterte bereits an der ersten Hürde, denn wie Nadja erzählte, hatten schon viele versucht, sich auf den Wäschereitransporter zu schleichen, wo sie aber immer geschnappt wurden. Auch Lisa antwortete ihnen nichts anderes und als sich Lena und Jonas selbst überzeugten, beobachteten sie, wie drei Kittelmenschen die Ladefläche des Transporters komplett umkrempelten, um jeden flüchtigen Probanden wieder einzufangen.
Außerdem waren sich Lena und Jonas einig, dass sie bei einer Flucht einige Unterlagen benötigen würden, die sie den Ärzten oder der Polizei zeigen mussten. Und wie sie an solche Unterlagen kommen sollten, war auch noch nicht abschließend geklärt. Genaugenommen wussten sie nicht mal, wo sie theoretisch hinmussten, um die Unterlagen zu ergattern.
Gleichzeitig war Lena immer noch unschlüssig, wohin sie denn fliehen sollten. Zurück ins Heim hieße in eine andere Hölle zu gehen und außer dem Heim kannte sie draußen niemanden. Nicht einmal von Lukas und Mia wusste sie, wo sie wohnten. Trierweiler war alles an Adresse, was sie von den beiden hatte.
So verwarfen Lena und Jonas die Fluchtpläne wieder und versuchten täglich alles, um nicht zu sterben. Wieder mit anderen Probanden im Institut zu sprechen gab beiden Hoffnung und es tröstete Lena nach einigen Tagen über den Verlust von Amélie hinweg, doch es schien auch Misstrauen bei den Kittelmenschen zu wecken.
Es ging sogar so weit, dass eines Morgens das Frühstück von den Kittelmenschen beendet wurde, die Lena und Jonas von den anderen wegzogen.Auf Drängen der Kittelmenschen und nachdem der Motorradmann es ihnen explizit gesagt hatte, setzten sich Lena und Jonas zum Essen schließlich wieder an einen eigenen Tisch.
Das änderte aber nichts daran, dass das Geflüster im Institut zunahm, dass Lena und Jonas die Helden waren, die am Ende alle befreien würden. Bald schon wusste niemand mehr, wer damit angefangen hatte, aber Lena und Jonas wurden zu Symbolen und wer ihnen begegnete lächelte oder versuchte sich an einem Handzeichen.Während Jonas die viele Aufmerksamkeit bald zu viel wurde, spornte sie Lena an, sich intensiver mit dem Gedanken an eine Flucht auseinanderzusetzen. Sie prägte sogar eine Handbewegung, die als Gruß für die Menschen im Institut fungierte: Aus der geballten Faust spreizte man erst den Daumen, dann gebündelt Zeige- und Mittelfinger und zuletzt gebündelt Ringfinger und kleinen Finger ab. Wenn es schnell gehen musste, konnte man die einzelnen Schritte auch zusammenfassen, doch wichtig war der Übergang von Faust zur Hand mit scheinbar drei Fingern.
Eines Nachmittags in der Werkstatt musste Lena Jonas dann erklären, was sie sich dabei gedacht hatte.»Ist dir das einfach so eingefallen? Oder hat das irgendeine Bedeutung?«, fragte er.
»Das hat eine Bedeutung«, erwiderte Lena stolz. »Die Faust steht für das Institut. Der Daumen steht für dich selbst, der du die Handbewegung machst. Du befreist dich aus dem Institut. Zeigefinger und Mittelfinger stehen für die anderen hier. Meine Flucht ermöglicht ihre Flucht. Und die letzten beiden Finger stehen für die, die schon tot sind. Wir werden ihr Andenken in die Welt tragen und allen sagen, wofür sie sterben mussten!«
»Und das hast du dir einfach so ausgedacht?«, fragte Jonas halb skeptisch halb beeindruckt.»Naja. Ich hab mir was abgeguckt. Ich hab die Bewegung im Grunde nur auf uns angepasst.«
»Ach und wie?«, fragte Jonas.
»Hier gibt es ein Theaterstück. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann hat das ein ehemaliger Schüler geschrieben. Und darin gibt es auch so eine Handbewegung. Nur werden da alle fünf Finger einzeln abgespreizt.
Da steht dann der Daumen für dich, der Zeigefinger für Jesus, der Mittelfinger für die Verschwörungsgemeinschaft, der Ringfinger für Gott und der kleine Finger für den toten Anführer der Verschwörung.«»Krass. Und du hast Gott und Jesus einfach rausgestrichen?«
»Naja, was wollen wir hier schon von Gott oder Jesus. Die können wir wieder aufnehmen, wenn wir draußen in einer Kirche waren.«
Die Wahrheit sah etwas anders aus. Lena betete jeden Tag zu Gott und war sich inzwischen ziemlich sicher, dass er seit einiger Zeit ihre Füße hier im Institut führte, doch sie wollte sich für die Aktion auf die anderen Menschen konzentrieren.
»Hast du eigentlich inzwischen was gefunden, um das andere Theaterstück da zu übersetzen?«, fragte Jonas plötzlich. »Du weißt schon das griechische.«»Nein«, seufzte Lena und rieb sich über die Augen. Wie ferngesteuert sah sie hinüber zu der Kiste, in der sich die Hefte befanden. Lena hatte sie alle durchgesehen. Alle waren mit griechischen Worten vollgeschrieben. Auf vieren stand außen auf Deutsch drauf ›Der Gefangenenaufstand‹ und dahinter durchnummeriert von eins bis vier. Auf drei weiteren Heften stand ›Im Schatten der Kriegsfackel‹ ebenfalls durchnummeriert und auf den letzten drei Heften im Karton stand ›Kostüme‹.
Unter den Heften lag ein Teil eben jener Kostüme, die in den alten Schulheften vorgezeichnet waren und füllte die Kiste.Hundert Mal hatte Lena sich die Kiste angesehen und durchgegraben, doch sie hatte außer den zehn Heften und fünfzehn Kostümen nichts darin gefunden. Und obwohl sie ganz genau wusste, dass sie auch diesmal nichts finden würde, lief Lena wieder zu der Kiste hinüber. Vorsichtig zog sie sie heraus und öffnete den Deckel.
Der Inhalt hatte sich auch heute nicht auf magische Weise verändert, doch plötzlich kam Lena eine Idee. Sie kletterte durch die Lücke, die durch das Fehlen der Kiste entstanden war und sah sich hinter der Wand um. Hier stapelten sich weitere alte Kartons aber auch alte Stühle und Barhocker, die wohl repariert werden mussten. Doch ein Kistenstapel zog Lenas Aufmerksamkeit auf sich.
Aufgeregt öffnete sie eine Kiste nach der anderen und lugte hinein. Bei der letzten Kiste hatte sie schließlich Glück: Auf einem Stapel Kostüme lagen einige Hefte. Es waren genau vierzehn: acht mit der Aufschrift ›Der Gefangenenaufstand‹ und sechs mit der Aufschrift ›Im Schatten der Kriegsfackel‹. Die Hefte waren wieder durchnummeriert, aber halbiert und in der Ecke der Vorderseite des Heftes stand ganz klein entweder ›Transkript‹ oder ›Übersetzung‹.
Aufgeregt öffnete Lena ein Heft mit der Nummer 1 und blätterte vor bis zu der roten Schrift. Dort stand: »Nekroi Ite pros Engelastais. Kai angelete autos te autoi estyphelizon hymas, hina gignoskusin ti estin he axia tu anthropon«
Den ersten Anflug von Enttäuschung ignorierend schlug Lena das andere Heft mit der 1 auf und las: »Ihr Toten, geht zu den Spöttern, und verkündet ihnen, wie sie euch misshandelten, damit sie lernen, was der Wert des Menschen ist.«In der Ecke der Heftseite standen in rot noch drei Buchstaben: NIE.
Voll des Glückes über ihren Fund blätterte Lena zum Anfang des Heftes, um das Drama nun ganz zu lesen. Erst las sie noch stockend, weil sie seit zwei Jahren nicht mehr so viel gelesen hatte, aber mit jeder Seite wurde es einfacher und mit jedem Tag, den sie las, war sie mehr gefesselt von dem Abenteuer eines Soldaten, der eigentlich an einem Trainingscamp teilnehmen wollte und in einem Arbeitslager landete. Gemeinsam mit einigen anderen entwickelte er einen Plan, wie sie alle gemeinsam aus dem Lager fliehen wollten. Dabei stolperten sie über eine alte Schrift - den in rot geschriebenen Teil, den ein besonders schlauer Mitstreiter für die anderen in einfachere Worte zu übersetzen versuchte:
›Es scheint ein Aufruf zu sein‹, erklärte er dem Soldaten. ›Ein Aufruf an die Toten. Sie sollen zu den Spöttern gehen. Ich nehme an, das waren Unterdrücker. Es könnten aber auch andere Menschen gewesen sein, die nichts als Hohn für die übrig hatten, die gestorben sind. Schlussendlich soll dann diesen Spöttern klar werden, dass sich ein Mensch die Freiheit nicht verdienen müssen soll. Der Wert eines Menschen ist die Freiheit, die ihm zusteht und die schöpferische Kraft, die er daraus ziehen kann, so hat es mir mein Vater erklärt. Und da jeder Mensch einzigartig ist und keine zwei Menschen die gleichen Gedanken haben können, ist jeder Mensch unersetzbar und damit von unermesslichem Wert.‹
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WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbst
MaceraIm Institute for Research of Reproduction and Transsexualism - kurz IRRT - wird die Zukunft der Medizin erforscht. Als Dr. Turowski im Jahre 2074 den Durchbruch in ihrem Forschungsprojekt erzielt, ist sie sich sicher, Gottes Werk vollbracht zu haben...