Die Zeit verging schleichend im Institute for Research of Reproduction and Transsexualism, jedenfalls kam es Lena so vor. Genauso schleichend passierte es aber auch, dass Lena sich in Amélie verliebte.
Die beiden Jungs hatten noch nichts mitbekommen, doch aus dem allnächtlichen Sich-das-Bett-Teilen wurde im Laufe der Zeit ein ständiges Austauschen von Berührungen und Küsschen und das Gefühl, dass die ganze Welt schön war, solange Amélie da war. Und Amélie war oft da. Genaugenommen war sie kaum jemals nicht bei Lena. Auch wenn Lucien irgendwann lieber auf dem Boden schlief, weil sich die beiden Jungs im Bett zu eng wurden, blieb Amélie immer bei Lena und manchmal schien es Lena, als versuchte Amélie auch alles, um so viel wie möglich bei Lena zu sein.
Aber Lena und Amélie blieben vorsichtig. Beide hatten das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun und taten es deshalb nur abends und nachts heimlich im Bett. Und an Sex dachte keine von beiden auch nur im Entferntesten.
Im Laufe der Zeit wurden vor allem Lena und Jonas aber immer mehr Privilegien zuteil. So bekamen sie beispielsweise eigene Duschen, dann Extrazeiten im Kraftraum, wenn die anderen im Unterricht saßen und schließlich wurden sie ganz vom Unterricht befreit, um im Labor in einem der oberen Stockwerke des Instituts zu helfen.
Die Laborarbeit machte Lena sogar ein bisschen Spaß, aber für Jonas war sie nichts. Ihn interessierte nur, wenn etwas explodierte oder eine vermeintlich giftige Flüssigkeit auslief. Doch anstatt ihnen daraufhin das Recht zu entziehen, weiter im Labor zu arbeiten, wurde Jonas zu den Chemikern in das Labor im Stockwerk darüber gebracht und seinen Berichten nach zu urteilen, gefiel es ihm dort wesentlich besser.
Doch irgendwann, etwa ein halbes Jahr nach Lenas und Jonas' Operation stand auch die von Amélie und Lucien an. Vorher kam der Motorradmann nochmal zu ihnen, um allen eindrücklich klar zu machen, dass nun die Zeit nächtlicher Besuche vorbei war und dass nach der Operation auch Amélie und Lucien nicht mehr ihr Bett verlassen dürften.
Am nächsten Morgen wurden Amélie und Lucien nach dem Frühstück abgeholt und Lena fühlte sich sofort elend. Der Herbst, der bereits Einzug gehalten hatte, wirkte plötzlich noch düsterer und bedrohlicher und Lena spielte sogar mit dem Gedanken, sich vor den Sportübungen zu drücken. Doch sie blieb artig und folgte brav dem Tagesplan.
Und wie die Tage unerträglich wurden, so wurden sie auch wieder wunderschön, als Lena und Jonas ihre Freunde nach ihrem Aufwachen wenigstens tagsüber besuchen durften. Die Nachricht erhielten sie beim Frühstück durch die blonde Kittelfrau, bei der Lena und Jonas zuerst Unterricht gehabt hatten, die zu ihrem Tisch kam und möglichst unfreundlich sagte: »U1F-635 und U1F-480 sind stabil. Nach eurer Laborarbeit werdet ihr sie besuchen dürfen.«
Es war für Lena und Jonas nichts besonderes mehr, wenn in diesen Ziffern-Buchstabenfolgen gesprochen wurde. Im Grunde war der Code auch sehr einfach: Das U hatte jeder Proband und es stand wohl für Untersuchung oder so etwas. Die folgende Ziffer stand für das Jahr in dem die betreffende Person ans I.R.R.T gebracht wurde. 1 für das erste Jahr, 2 für das zweite und in Zukunft würde es wohl so fortgeführt werden. Das F hatten alle im Namen, die ein rotes Hemd trugen, alle mit gelb hatten ein A, alle mit blau ein C und alle mit grün ein D. Was mit B und E war, wusste keiner. Die drei Ziffern hinter dem Bindestrich waren schließlich völlig willkürlich und keine zwei Probanden hatten die gleiche Nummer. Lena hatte die 478 bekommen, Jonas die 934 und Amélie hatte eben die 635, während Lucien die 480 hatte.
Auch im Labor wurden Lena und Jonas nur so angesprochen, wobei allerdings meistens nur die letzten drei Ziffern genutzt wurden, was ja ausreichte. Als Lena aber einmal einer Kittelfrau gesagt hatte, dass sie sie auch Lena nennen könnte, hatte die Frau hinter ihrer Schutzbrille ganz komisch geguckt und dann weiter 478 zu ihr gesagt.
Im Labor passierten aber noch ganz andere komische Dinge, sodass Lena über die Sache mit den Namen hinwegsah. In den Laboren, die aussahen, als wären sie früher mal Klassenzimmer einer Schule gewesen, arbeiteten nämlich viele Menschen. So viele, dass man schnell den Überblick verlor, wer denn nun wer war. Es trugen zwar alle ein Namensschild, doch das sah man kaum, wenn man nebeneinander über den Labortisch gebeugt stand oder hintereinander in ein Mikroskop blickte. Und auch sonst gab es keine äußeren Merkmale, an denen man sich unterscheiden konnte, außer der Größe, denn jeder im Labor musste einen bodenlangen, weißen Kittel, eine weiße Haube über den Haaren und eine fette Schutzbrille über dem Gesicht tragen. Sobald man diejenigen aus den Augen verloren hatte, mit denen man sich umgezogen hatte, wusste man nicht mehr, wer hier wer war.
Ein Erkennungszeichen gab es dann aber doch: Jeder außer Lena trug im Labor auch einen einzelnen goldenen Streifen auf der linken Brust unter dem Namensschild. Allein für die Unterscheidung von Lena wäre es wohl überflüssig gewesen, denn Lena war mit Abstand die Kleinste im Labor, doch um Lena ging es gar nicht, denn ab und zu kamen Kittelmenschen vorbei, die zwei goldene Streifen unter ihrem Namensschild hatten und Anweisungen gaben oder Lob aussprachen.
Heute jedoch passierte etwas ganz Besonderes: Ein Kittelmensch mit drei Streifen betrat den Raum, um Lena abzuholen.
»635 und 480 sind wach«, erklärte er knapp und packte Lena an der Schulter, um sie vor die Tür zu bringen. Alle anderen Kittelmenschen machten einen ehrfurchtsvollen Schritt zurück, um dem Drei-Streifen-Typ Platz zu machen. Es kam Lena ein wenig albern vor, doch sie sagte nichts, weil sie gelernt hatte, dass die Methoden hier zu kritisieren im Ernstfall hieß, geschlagen zu werden und das wollte sie nach dem ersten Mal kein zweites Mal provozieren.Draußen wartete schon Jonas, und beim Umziehen stellte Lena fest, dass es der Motorradmann gewesen war, der sie aus dem Labor geholt hatte.
Schweigend liefen die drei zum Zimmer von Amélie und Lucien, wo der Motorradmann sie alleine ließ und Lena und Jonas leise das Zimmer betraten.
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WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbst
AdventureIm Institute for Research of Reproduction and Transsexualism - kurz IRRT - wird die Zukunft der Medizin erforscht. Als Dr. Turowski im Jahre 2074 den Durchbruch in ihrem Forschungsprojekt erzielt, ist sie sich sicher, Gottes Werk vollbracht zu haben...