Zwischenspiel (2)

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Nicht weit entfernt vom Institut gibt es im Wald ein schwer einsehbares Waldstück. Es liegt zwischen Bäumen und Sträuchern so gut versteckt, dass man selbst im Winter von außen nicht sehen kann, was die Zweige verstecken. Und genau deshalb suchte Professor Doktor sich diese Stelle aus, um dort zu verstecken, was niemand erfahren sollte.

Melanie aber stehen jedes Mal die roten Haare zu berge, wenn sie wieder etwas oder jemanden verstecken soll. Es gehört in ihren Aufgabenbereich, die Geheimnisse des Instituts in den Wald zu bringen, sich durch das Gestrüpp zu wühlen und alles in ein und demselben Loch im Boden zu versenken.

Zu Anfang war ja noch alles aufregend gewesen, als sie von Professor Doktor die Aufgabe bekommen hatte, verunreinigte Proben oder missglückte Medikamente zu entsorgen. Nur ganz tief hinten in ihrem Geist hatte sie sich Gedanken über die Umwelt gemacht, als sie Medikamente einfach in den Boden geworfen hatte. Nicht mehr lustig war es an dem Tag, als sie die erste Leiche ins Loch schmiss.

»Ich hoffe, ich muss dazu jetzt nichts sagen.«
»Sag's trotzdem.«
»Eindeutiger Mord. Jetzt ist es nicht nur irgendwie vielleicht strafbar, jetzt ist es lebenslänglich.«
»Klar. Sieht schlimm aus. Aber einen Mord muss man ihnen trotzdem erst noch nachweisen!«
»Hey! Himmel an den letzten Dummkopf: Der Mord wurde schon nachgewiesen! Wir haben ihn selbst beobachten können!«

»Nein. Was wir gesehen haben, waren Leichen in einem Loch im Wald. Ansonsten wissen wir nur, dass sie im Institut gestorben sind.«
»Und was brauchst du noch für Beweise, dass diese Arschlöcher alle Mörder sind?«
»Einen Echten. Vielleicht war es ja nur Tötung, ob fahrlässig oder nicht. Vielleicht auch unterlassene Hilfeleistung. Und vielleicht haben sie ja Hilfe geleistet. Dann wäre es nicht mal das!«

»Bist du blind? Die verscharren die Leichen! Die sind schuldig! Eindeutig.«
»Ach ja? Wie gut, dass du kein Kriminologe geworden bist! Das kannst du doch nicht allen Ernstes als Beweis betrachten!«
»Wie soll ich es denn sonst betrachten? Hm?!«
»Vielleicht als das, was es ist! Ein trockener Hinweis ohne viel Gehalt. Man müsste doch erstmal die Leichen untersuchen, um zu wissen, ob man es mit Mord oder mit natürlichen Toden zu tun hat!«

»Hast du dir die Leichen mal angeschaut? Kinder von zwölf Jahren sterben nicht einfach so. Und schon gar nicht paarweise!«
»Vielleicht ja doch? Statistisch gesehen ist das nicht unmöglich.«
»Statistisch? Bist du jetzt Mathematiker?«
»Nein, aber ich versuche dir beizubringen, dass das alles möglicherweise anders ist, als es für dich aussieht. Es ist eigentlich immer anders, als es aussieht.«

»Du bist doch echt nicht mehr zu retten! Wozu nimmst du die denn jetzt noch in Schutz? Es dürfte doch mittlerweile allen klar sein, dass dieses Institut ein von vorne bis hinten gescheitertes Projekt ist! Aber du verteidigst deine Professorin immer noch!«
»Ich verteidige nicht, dass sie Kinder entführt und Obdachlose. Ich verteidige nicht, dass sie sie gegen ihren Willen operiert. Aber trotzdem: Ihre Sache ist eine Gute. Und spätestens, wenn Lena und Jonas wieder ihre Körper zurückhaben, wirst du das auch sehen!«

»Entschuldige, aber ich sehe nicht, dass sie ihre Körper jemals zurückbekommen. Genauso wie die anderen Opfer. Am Ende werden sie ihren Qualen erliegen und sterben. Und dann will ich nochmal sehen, wie du das Institut verteidigst.«
»Du wirst sehen, dass sie ihre Körper wiederbekommen. Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, ist es nicht das Ende!«
»Was soll der Spruch denn jetzt? Du weißt schon, dass wir hier in der Realität sind und nicht in einer blöden Geschichte?«

»Bist du dir da so sicher? Außerdem habe ich das im Gefühl! Am Ende wird alles gut.«
»Ach ja? Du bist dir da also sicher, ja? Aber für wen, frage ich dich! Für wen kann es noch gut werden? Für die Toten da unten ja wohl nicht mehr, oder?«
»Nein, du hast recht. Ihnen ist ihr Leben genommen worden. Aber vielleicht dient ja auch das einem größeren Wohl?«

»An dieser Stelle unterbreche ich euch mal, bevor ihr noch fragwürdigere Dinge von euch gebt.«
»Wieso wir? Was habe ich denn jetzt schon wieder gemacht?!«
»Genug. Ihr benehmt euch beide wie kleine Kinder. Und darüber hinaus hat ihr völlig vergessen, was unsere eigentliche Aufgabe hier ist. Wir werden nämlich nicht fürs rumsitzen und Meckern bezahlt!«
»Ach so? und um wen sollen wir uns kümmern?«
»Na um die, über die ihr die ganze Zeit sprecht! Manchmal seid ihr beide so kurzsichtig, dass man verrückt wird. Wer tot ist, kommt hier her. Und jetzt stehen die zwölf aus dem Loch vor unserer Tür...«

Melanie steht vor dem Loch und weint. Jeden Abend tut sie das, aber heute Abend ist irgendwie besonders. Heute musste sie zwei Achtjährige beerdigen. Sie nennt es immer noch beerdigen, weil das schöner klingt als verscharren. Und mit ihr gibt es immerhin noch einen Menschen, der an die Toten denkt, sie in Erinnerung behält.

Melanie hasst das Institut. Von ganzem Herzen und aus tiefster Seele. Für die toten Kinder hasst sie es. Aber sie kann nicht gehen. Es klingt doof, das weiß sie selbst, aber es ist ganz einfach: Sie hat Verschwiegenheitserklärungen unterzeichnet, aber als Mensch und deutsche Staatsbürgerin müsste sie das Institut sofort anzeigen.

Solange sie Mitarbeiterin ist, kann sie das nicht, redet sie sich ein, denn dafür könnte sie rausgeschmissen und verklagt werden. Und bei Dr. Gruber weiß man jetzt auch nicht genau, ob der einen nicht sogar umbringen würde. Aber Professor Turowski war immer ihre große Heldin. Wegen ihr hat Melanie Biochemie studiert. Das heißt, selbst ohne Dr. Gruber säße Melanie zwischen den metaphorischen Stühlen.

Darum kommt Melanie nur jeden Abend her und trauert still für sich. Und ansonsten macht sie ihren Job. Mehr nicht.

Es hieß irgendwo mal: ›Helden sterben, wenn du ihnen zu nahe kommst.‹ Oder so. Melanie weiß jetzt, was es bedeutet. Aber akzeptiert hat sie es noch nicht. Nicht wirklich.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt