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Die Zeit verschwamm wieder, als sich der Tagesablauf von Lena und Jonas erneut in einen einfachen Tagesrhythmus fiel. Bei ihrem übernächsten Besuch wünschte Lisa den beiden frohe Weinachten und verkündete, dass sie mit ihrem Vater und ihrer Fast-Stiefmutter drei Wochen in den Urlaub fahren würde. In dieser Zeit konnte die Wäscherei im Ort die Wäsche des Instituts nicht übernehmen, weshalb die beiden kleinen Waschmaschinen im Wäscheschuppen in diesem Zeitraum wohl nicht mehr stillstehen würden.

Damit fiel nur auch der Rhythmus weg, alle zwei Tage beim Wäschetragen zu helfen. Entsprechend verloren Lena und Jonas wieder das Gefühl für die Tage.
Dafür hatten sie viel Zeit, um die Werkstatt aufzuräumen. Zumindest Lena hatte Zeit dazu, während Jonas sich um die vielen Möbel kümmerte, die die Kittelmenschen in die Werkstatt brachten.

Lena begann von hinten nach vorne, um ihre Aufräumabsichten so lange wie möglich verschleiern zu können, doch sie kam ohnehin nicht sonderlich schnell voran. In jeder Kiste fand sie alte Schulhefte, Bücher oder seltsam aussehende Kostüme. Alles, was sie nach vielen langen Stunden in dieser Werkstatt erreichte, war die Erkenntnis darüber, dass dieses Institut einmal eine Schule gewesen war. Höchstwahrscheinlich sogar ein Internat.

Je nach dem, wie sie morgens aufgestanden war, untersuchte Lena die Kisten, die sie verschob mit mehr oder weniger Gründlichkeit. So kam es vor, dass sie an einem Tag die Schulbücher nur auf einen Haufen schmiss und an einem anderen Tag konnte sie stundenlang durch die Schulhefte früherer Schüler blättern und las über deren Ängste und Zweifel und das hässliche Gefühl, eingesperrt zu sein.

Was Lena an Büchern und Heften sortieren konnte, packte sie zurück in die Kartons und stapelte sie so gut es ging ordentlich an der hinteren Wand auf. Dafür hatte sie die Holzreste unter die Werkzeugwände verschoben. So kam Jonas besser dran und Lena hatte mehr Platz zum Aufräumen.

Außerdem kam Lena so auch an die alten Schränke dran, die neben dem Kachelofen aufgereiht standen. In den hinteren standen aber nur große Bilder, die in seltsame Formen geschnitten waren. Manche ähnelten den Türmen eines Schlosses oder einem großen Torbogen. Im Schrank direkt neben dem Heizkörper aber standen die richtigen Bilder: Sie waren so hoch wie der Schrank und so oft unterteilt, dass die einzelnen Stücke der Breite nach auch hineinpassten. Abgebildet waren darauf unter anderem ein großer Wald, ein Gebirge und eine Sumpflandschaft. Auf den Rückseiten der Bilder waren jeweils Markierungen, die zusammengehörige Bilder kennzeichneten.

Ohne sich einen Reim darauf machen zu können, wozu diese seltsamen Bilder gut gewesen sein sollten, schloss Lena die Schränke wieder und stapelte die Kisten auch vor den Schränken. Dass sie den Inhalt der Schränke jemals brauchen würde, bezweifelte sie und so fiel nicht gleich auf, dass sie Kisten umräumte.

Je höher Lena die Kisten aber stapeln konnte, desto unauffälliger wurden die kleinen Wege durch die Kistenstapel, die dabei entstanden und in denen sie sich verstecken konnte. Mit der Zeit wurde es sogar fast gemütlich in dem großen Haufen von alten Schulsachen und hier und da fand Lena ganz interessante Dinge, wie beispielsweise jahrzehntealte Acrylfarbe oder mindestens genauso alte Fackeln.

Jonas reparierte die Möbel fleißig und mit viel Elan. Ihn interessierte im Grunde kaum, was Lena in der Werkstatt anstellte und er ließ sich auch nicht davon aus der Ruhe bringen, wenn sie versuchte, ihre neuen Funde irgendwie einzuordnen, dass alles einen Sinn machte.

Jonas hatte kein Interesse an einem Gesamtbild vom Institut und seiner Vergangenheit und schon gar kein Interesse hatte er daran, zu erfahren, was Schüler vor Jahrzehnten in diesen Gemäuern getrieben hatten.
Trotzdem hörte er Lena immer zu und unterbrach sie nicht. Dafür kam sie immer, wenn ihm ein Möbelstück zu schwer war, als dass er es alleine hätte heben können.

Anfang Januar kam dann der Tag, an dem Lisa und ihr Vater wieder mit ihrem Transporter auf den Hof rollten. Und erst der Anblick von Lisa weckte in Lena zum ersten Mal seit einer ganzen Woche wieder den Gedanken an Amélie. Irgendwann um Neujahr war sie aus ihrem Gedächtnis verschwunden und an ihre Stelle waren die ehemaligen Schüler des Internats getreten.
Doch jetzt kam Amélie mit Wucht zurück und haute Lena beinahe aus den Socken.

Kurz genehmigte Lena sich, die Tränen in ihre Augen treten zu lassen, bevor sie die Schultern straffte und Lisa mit einer Umarmung begrüßte. So gut es ging vertrieb sie Amélie wieder aus ihrem Geist und konzentrierte sich voll auf die Kisten, die auf der Ladefläche des Transporters standen. Auch Lisas Vater begrüßte Lena noch mit einem Handschlag, bevor sie begann, die Kisten in den Wäscheschuppen zu bringen.

Als die Arbeit getan war, setzten sich die drei Jugendlichen auf eines der Gerüste und unterhielten sich leise.
»Du glaubst nicht, was in dieser Werkstatt alles drin ist!«, schwärmte Jonas mit leuchtenden Augen. »Man kann beinahe alles werken, was einem im Kopf vorschwebt.«
»Das klingt cool, Jonas«, antwortete Lisa. »Und hast du da drin auch so viel Spaß, Lena?«
»Schon«, wich Lena aus. »Ich wühle mich halt durch die alten Schulsachen, die vom Internat noch dageblieben sind.«
»Da sind noch alte Schulsachen hier? Krass«, befand Lisa.
»Ja, wirklich. Du weißt nicht zufällig was über das Internat, oder?«

»Nein, tut mir leid. So lange ich denken kann, stand dieses Gebäude hier leer. Aber angeblich habe ich schon gelebt, als das Internat aufgelöst wurde. Die Menschen im Dorf mochten die Leute aus dem Internat aber überhaupt nicht. So viel ich mitbekommen habe, war das hier eine Schule für reiche deutsche Schnöselkinder, die sich selten gut benommen haben, wenn sie im Dorf waren. Und einige von den Älteren Schülern sind wohl öfter in einen Puff im Wald gegangen und weil sie das nicht unterbinden konnten, haben sie die Schule dann irgendwann dichtgemacht«, erzählte Lisa.

»Ein Puff. Das ist doch so ein Haus, wo ganz viele halbnackte Frauen rumlaufen, oder?«, fragte Jonas mit leicht angewidertem Gesichtsausdruck.
»So in der Art. Ich glaube schon«, entgegnete Lisa.
»Also in sowas werd' ich nie gehen. Egal was man mir dafür gibt«, erklärte Jonas und schüttelte den Kopf.
»Normalerweise bezahlt ja auch derjenige, der hingeht«, lachte Lisa.
»Das wäre ja noch ein Grund, nicht hinzugehen«, meinte Jonas und schloss damit das Thema ab.

»Aber mal was Anderes, Lisa: Weißt du ungefähr, wie weit das Dorf von hier weg ist? Beziehungsweise wie lange fahrt ihr mit dem Auto ungefähr?«, fragte er.
»Wozu willst du das denn wissen?«, fragte Lisa irritiert, antwortete dann aber: »Etwas mehr als 20 Minuten normalerweise.«
»Danke«, erwiderte Jonas nur und starrte dann in die Luft.
»Hey, was ist los?«, fragte Lena. »Rechnest du uns gerade einen Fluchtplan aus?«
Im Scherz gemeint, hatte Lena damit den Kern von Jonas Ansatz genau getroffen.

»Psst! Sag das nicht zu laut!«, mahnte er sofort und schaute sich panisch um.
»Was? Ohne Lucien und Amélie?«, fragte Lena weiter und Jonas schüttelte nur den Kopf.
»Wir haben so lange nichts von ihnen gehört, Lena. Ich sage dir, es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder sind sie tot, oder sie sind geflohen. Im schlimmsten Fall sind sie auf der Flucht gestorben.«
»Wieso sagst du das?«, rief Lena, die plötzlich den Tränen nahe war. »Ohne uns würden sie das nie machen!«

»Was macht dich da so sicher?«, entgegnete Jonas.
»Dass Amélie mich geliebt hat«, hielt Lena dagegen und sah Jonas böse an.
»Aber Lena. Wenn sie noch hier im Institut wären, dann wüssten wir längst, was mit ihnen ist. Egal auf welchem Weg.«
In diesem Moment rief Lisas Vater nach seiner Tochter und unterbrach das Gespräch.
»Wenn ihr euch zur Flucht entscheidet, bin ich dabei. Ich helf' euch«, versprach Lisa noch bevor sie zum Auto verschwand, doch das war Lena gerade völlig egal. Jetzt zählte vor allem, dass Amélie und Lucien nicht wieder vergessen würden.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt