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Es ist diese Frage, die einen quält, tagtäglich. Wer bin ich eigentlich? War ich das schon immer? Wäre ich das auch im Heim geworden? Haben DIE das aus mir gemacht?
Wer bin ich? Ich bin Lena. Ich hatte nie einen Nachnamen und ich brauchte auch nie einen. Ich war immer nur Lena.
Aber wer bin ich wirklich? Tief in mir drin? Ich bin ein Mädchen. Ich bin ein Mädchen mit tiefer Stimme, mit Bart und mit einem Penis.
Ich hasse dieses Ding an mir mit jedem Tag mehr. Ich kann nicht anders als es zu verabscheuen. Jedes Mal auf Klo, jedes Mal unter der Dusche. Ich hasse es. Das bin nicht ich. Das ist jemand anders. Ein Kittelmenschenprodukt. Das sind keine Ärzte. Das sind Bestien, Höllenwesen, Teufel.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Warum hast du mich in dieses Loch gesperrt in dem ich entweder sterben werde oder verrecke? Warum hasst du mich so sehr, dass ich das verdient habe?
Was habe ich falsch gemacht in meinem Leben? Wann habe ich den großen Lebensverändernden Fehler gemacht? Und wie kann ich das wiedergutmachen?
Ich möchte doch nur wieder ich sein.

Aber wer bin ich eigentlich? Ich bin Lena und gleichzeitig bin ich nicht mehr Lena. Ich habe gelesen, Lena bedeute ›die Schöne‹. Aber ich bin nicht schön. Ich bin hässlich, ich kann mein Gesicht in keinem Spiegel sehen, ohne es zerstören zu wollen. Ich kann keine Frau ansehen ohne vor Neid zu zergehen.
Und dann müssen wir ja jetzt noch diese Medikamente nehmen. Man bekommt sie kaum durch den Hals, aber ich merke, wie sie etwas in mir verändern. Wie sie das Ding an mir verändern. Es ist, als wollte das Ding selbstständig werden und mir Streiche spielen.

Und ich weiß, dass es Jonas genauso schrecklich geht wie mir, aber ich kann kaum mehr mit ihm mitfühlen. Es tut gut, jemanden an meiner Seite zu wissen, der weiß, wie es mir geht, aber ich fühle mich schuldig, weil ich ihm nicht dabei helfen kann. Er hilft mir, indem er zuhört, wenn ich kein Papier habe. Ich helfe ihm nicht. Ich weiß nicht wie. Er hat Schmerzen, die ich nicht kenne. Jetzt hatte er sie schon vier Mal, diese Schmerzen in seinem Bauch und dann blutet er aus der Scheide. Etwas ähnliches hatte er schon seit der Operation, doch mit dem ganzen Blut, das ist neu. Und ich kann jeden Monat nur daneben stehen und weiß nicht, was ich tun soll.

Wer bin ich? Wieso kann nicht Gott zu mir sprechen, so wie in den alten Geschichten und mir sagen, wer ich bin und wohin ich zu gehen habe? Wer bin ich? Bin ich überhaupt noch ein Mensch? Oder bin ich ein seltsames, genmanipuliertes Mischwesen? Wer bin ich? Und zählt für mich der Wert eines Menschen auch? Bin ich noch genug Mensch, dass ich so wertvoll wie alle anderen Menschen bin? Oder bin ich mit Penis weniger wert? Weil ich eigentlich keinen haben sollte?

Lena stockte. Jeden Tag schrieb sie sich den Kummer von der Seele. Und jeden Tag schrieb sie in kleinen Abwandlungen das Gleiche. Seit sie vor einigen Wochen einige leere Hefte in der Werkstatt gefunden hatte, konnte Lena mit alten Bleistiften ihre Gedanken aus ihrem Kopf herausschreiben. Und das brauchte sie auch, denn ansonsten wäre sie schon verrückt geworden.

Mehrmals hatte sie auch schon versucht, einen Brief an ihre Freundinnen im Heim zu schreiben. Natürlich wusste sie, dass sie ihn nicht mal losschicken konnte, aber sie schrieb trotzdem an Sarah und an Hanna und an Lisa und Becca und Lucy. Es war ein seltsames Gefühl, die Menschen, die Lena mal am besten gekannt hatte überhaupt nicht mehr zu kennen. Lena fühlte sich, als hätte sie alles vergessen, was mit ihren Freundinnen zu tun hatte. Nur dass Hanna gerne Fußball spielte, das wusste sie noch.

Doch nun musste Lena sich auf ihre andere Aufgabe konzentrieren: Die Flucht aus dem I.R.R.T. Von der Flucht selbst waren sie zwar noch weit entfernt, aber sie arbeiteten alle darauf zu.
Und mit ›alle‹ waren wirklich alle gemeint, die im I.R.R.T eingesperrt waren. Nadjas Geflüster hatte wie ein Lauffeuer um sich gegriffen und nicht nur aus Lena und Jonas lebende Legenden gemacht, sondern vor allem die Botschaft aus dem Theaterstück verbreitet. Jeder hier hatte jemanden gekannt, der vom einen auf den anderen Tag verschwunden war und entsprechend hatte jeder ein Bild vor Augen, wie die Toten die Kittelmenschen anklagten.

Jeder kannte nun den Spruch, jeder wusste dass er durch die griechischen Buchstaben ›ΝΙΕ‹ abgekürzt wurde, und jeder kannte das Handzeichen. Und alles drei fand Verwendung: Das Handzeichen warf man sich wie einen Morgengruß zu, um zu signalisieren, dass man heute kämpferischer Laune war, der Spruch wurde zitiert, um Kraft zu tanken oder andere zu motivieren und die drei Buchstaben erschienen an den unterschiedlichsten Stellen mit roter Farbe an Wände und Fenster geschmiert.

Für letzteres war vor allem Lena verantwortlich. Sie hatte die alte, rote Acrylfarbe in der Werkstatt gefunden und mit ein wenig Wasser wieder benutzbar gemacht. Die eigentliche Kunst bei der Aktion war nur, sich nicht erwischen zu lassen, denn die Kittelmenschen hassten die drei Buchstaben.
Es war Lena nicht ganz klar, warum die Kittelmenschen so dermaßen eskalierten, als sie angefangen hatte, die Buchstaben auf die Außenwände des Instituts zu schmieren, aber es brachte sie offenbar zur Weißglut. Und das nutzten Lena und Jonas aus, wo sie nur konnten.

Auch Jonas versuchte, seinen Teil beizutragen, indem er unter Tische und Stühle aus dem Speisesaal, die er reparierte, die drei Buchstaben an einer versteckten Stelle einritzte. Wenn Lena mit der Farbe unterwegs war, stand er aber höchstens schmiere. Aus irgendeinem Grund hatte er etwas dagegen, die Wände mit Farbe vollzuschmieren.

Natürlich war die Acrylfarbe auch nichts, was die Kittelmenschen nicht auf wegbekommen hätten, doch wenn die Buchstaben groß auf dem Fenster im Speisesaal gestanden hatten, dann dachte jeder sofort daran, wenn er an die inzwischen längst geputzte Scheibe sah. Außerdem fand Lena auch kleine, versteckte Orte, wo sie die Buchstaben anbringen konnte, ohne dass sie von den Kittelmenschen bemerkt wurden. Und schließlich hatten diese Attacken noch etwas Gutes, denn jedes Mal, wenn die Kittelmenschen etwas wegmachen lassen wollten, riefen sie den Hausmeister herbei und wenn der nicht in seiner Hütte am großen Hoftor war, konnte man in seine Hütte einsteigen und Schlüssel klauen. Auf diese Weise hatte Jonas schon viele Zimmerschlüssel an die Probanden verteilt, während Lena an verschiedenen Orten gleichzeitig zu sein schien, um die drei Buchstaben auffällig zu platzieren.

Das Fehlen der Schlüssel fiel tatsächlich nicht auf, was Lena eigentlich befürchtet hatte. Aber wie Jonas ihr mehrfach versichert hatte, befanden sich die Zimmerschlüssel alle in einer alten, verstaubten Kiste, an die der Hausmeister sowieso niemals ranging. Die Kittelmenschen hatten Generalschlüssel für alle Zimmertüren, also brauchten sie sie nicht und entsprechend war es völlig ungefährlich, die Schlüssel zu klauen.

Anders sah es da schon bei den anderen Schlüsseln aus, die Lena und Jonas gebraucht hätten, um an die Akten heranzukommen. Aber wie schon vor einigen Monaten, als sie den Entschluss zur Flucht gefasst hatten, wussten sie weder, wo die Akten waren, noch welchen Schlüssel sie dafür brauchen würden.

Lena brachte - vorsichtig wie immer - den kleinen Eimer Farbe, den sie wieder gefüllt hatte, hoch in ihr Zimmer, das sie sich noch immer mit Jonas teilte und verstaute ihn sicher in ihrem Nachtschränkchen. Heute Nacht würde sie sich wieder rausschleichen und Jonas morgen früh ein wenig Zeit verschaffen, sich in der Hausmeisterstube ein wenig umzusehen.

Plötzlich ertönte ein Klopfen an ihrer Zimmertür. Der Motorradmann steckte den Kopf ins Zimmer.
»Komm mit. Es gibt einen neuen Punkt auf der Tagesordnung. Das wird in nächster Zeit wohl erstmal jeden Tag einen Nachmittag in Anspruch nehmen«, überlegte er und stieß Lena vor sich her. Sie liefen ein paar Treppen hinab und landeten dann wieder auf dem Stockwerk, wo das Behandlungszimmer von Dr. Schwarz gewesen war. Diesmal aber gingen sie daran vorbei und zu einem Raum mit grüner Tür und der Nummer 03.8.


WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt