II

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Die ersten Zweifel kamen Lena, als sie das Auto erblickte. Es war ein großer, schwarzer SUV mit dicken Reifen und getönten Scheiben. Doch Lukas lächelte weiter, öffnete die hintere Schiebetür und schmiss die Tasche hinein. Dann winkte er ins Auto hinein, woraufhin die Beifahrertür aufging, und Mia ausstieg.

Mia war brünett. Und sie trug auch keine Brille. Aber ihre Stimme war angenehm warm, als sie Lena begrüßte. Außerdem umarmte sie Lena zur Begrüßung und fing dann sofort an, sie auszufragen.

Mia war verständnisvoll, hörte Lena zu, wenn sie von ihren Freundinnen oder ihren Bildern erzählte. Sie war auch nicht böse, als Lena leise gestand, dass sie geglaubt hatte, sie würde mit einem weißen Cabrio abgeholt. Da lachte Mia nur und entschuldigte sich dafür, dass sie kein weißes Cabrio hätten. Alles in allem war Mia noch netter als Lukas und Lena begann, sich richtig wohl in dem Auto zu fühlen, bis auf einmal Lukas sagte: »Mädels, jetzt geht es auf die Autobahn.«

»Autobahn? Wo fahren wir denn hin?«, fragte Lena unsicher.
»Wir wohnen in Trierweiler. Das geht ganz schnell, dann sind wir da. Oder wird dir schlecht im Auto?«, fragte Mia besorgt.
»Nein, nein. Das geht schon«, antwortete Mia leise, denn sie traute sich nicht, zuzugeben, dass sie in ihrem Leben noch nie mit einem Auto gefahren war.
»Schön«, antwortete Mia und schaute nach vorne. Dann ergänzte sie: »Aber Lukas, kannst du bei der Raststätte anhalten? Ich glaube, ich muss mal.«

Lukas grinste und zwinkerte Lena über den Rückspiegel zu. »Tja, so ist sie, die Mia«, seufzte er.

Keine zehn Minuten später stand das Auto auf dem Parkplatz einer Raststätte nahe Trier.
»Ich geh' eben schnell. Dauert nicht lange«, versprach Mia und hastete aus dem Auto.
»Das sagt sie immer«, kommentierte Lukas und schüttelte den Kopf. »Zehn Minuten dauert das bestimmt. Ich würde mir einen Kaffee holen gehen. Möchtest du auch was? Oder möchtest du vielleicht mitkommen?«
Lena nickte bedächtig.
»Was denn?«, fragte Lukas freundlich.
»Mitkommen«, antwortete Lena leise.
»Na dann auf«, lächelte Lukas und öffnete seine Tür. Dann entsperrte er die Kindersicherung und öffnete Lenas Tür.

Lena war glücklich, mit Lukas mitgehen zu dürfen, denn alleine in diesem Auto zu bleiben, hätte ihr Angst gemacht. Nun stand sie in der Raststätte und sah sich um. Lukas deutete auf einen Kaffeeautomaten in einer Ecke und dann auf eine Reihe von Regalen.
»Ich geh mir da vorne einen Kaffee holen. Da drüben sind die Süßigkeiten. Such dir doch was aus, was du magst, ja? Ich bin gleich wieder bei dir«, sagte er und lächelte Lena aufmunternd an.

Eigentlich wollte Lena am liebsten bei Lukas bleiben, aber sie wollte auch nicht aufdringlich erscheinen, also nickte sie und ging zu den Regalen, die Lukas ihr gezeigt hatte. Hier lagen Tütenweise Gummibärchen in allen Ausführungen. Teilweise hatte Lena solche Sachen noch nie gesehen. Ab und zu bekamen die Heimkinder zu Ostern mal ein kleines Tütchen Gummibärchen von Vater Bölke geschenkt, aber gegen diese riesigen Tüten war das nichts. Lena lächelte. Das Leben hier draußen, außerhalb des Heims musste wirklich das Paradies sein.

Sie stand noch etwas unentschlossen vor dem Regal, als ein großer Mann in schwarzer Ledermontur neben sie trat. Er trug einen Helm wie die Motorradfahrer, die manchmal vor dem Heim entlangfuhren. Jannes, ein Junge aus Lenas Klasse, träumte davon, einmal Motorradfahrer zu werden und zeigte die Bilder von den tollsten Rädern und schicksten Helmen allen – auch denen, die sie gar nicht sehen wollten. Aber jetzt wusste Lena, dass dieser Helm relativ neu sein musste. Und wenn man Jannes glauben konnte, war er auch sehr teuer.

Plötzlich hörte Lena Lukas, der nach ihr rief. Sie riss sich vom Anblick des Motorradmannes los und wollte gerade zu Lukas laufen, als sie von hinten gepackt wurde. Verwirrt und geschockt zappelte Lena mit den Beinen und versuchte, den Kopf zu drehen, um zu erkennen, wer sie da gepackt hielt. Derweil stellte sich der Motorradmann genau vor sie, sodass man sie nicht sehen konnte, wenn man hinter ihm stand. Dass sie auch hätte schreien können, wurde Lena erst klar, als sie spürte, wie ihr jemand den Mund zuklebte. Dann wurden ihre Hände gefesselt und ein schwarzer Sack wurde ihr über den Kopf gestülpt. Das letzte, was sie hörte, als sie aus der Raststätte getragen wurde, war Lukas, der immer panischer nach ihr rief.

Lena wurde durch die Gegend getragen. Sie wusste nicht viel, außer, dass sie kopfüber von jemandes Schulter hing, während sie sich fortbewegten. Schließlich blieben sie stehen und die Schiebetür eines Autos wurde geöffnet. Dann wurde Lena hineingesetzt und angeschnallt. Ein lautes Geräusch an ihrem rechten Ohr signalisierte ihr, dass die Tür jetzt wieder zu war und sie direkt daneben saß.

Einige Sekunden später wurde die vordere Autotür geöffnet, jemand schnaufte schwer, als er sich hinsetzte und dann sprach eine schnarrende Frauenstimme:

»Nochmal durchzählen? Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Alle da. Dann kann es ja jetzt losgehen. Auf zum Institut!«
Dann drehte jemand das Radio auf und ließ den Motor an.

Als die Tür wieder geöffnet wurde, fühlte sich Lena, als wären sie seit Stunden unterwegs gewesen. Sie wurde aus dem Auto gehoben und anschließend wurden ihre Fesseln gelöst und der Sack von ihrem Kopf genommen. Eine junge Frau in einem weißen Kittel sah sie kalt an, während sie ihr den Klebestreifen vom Mund riss. Es tat höllisch weh, doch Lena machte keinen Mucks. Was Lukas und Mia wohl jetzt taten? Versuchten sie schon, sie wiederzufinden? Irgendwie hoffte Lena das, aber gleichzeitig ahnte sie schon, dass sie Lukas und Mia niemals wiedersehen würde.

Plötzlich stand der Motorradmann aus der Raststätte vor ihr. Unter dem Helm hatte er schwarze Locken versteckt, die sein Gesicht komplett einrahmten. Das Bisschen, das von seinem Gesicht dazwischen noch zu erkennen war, war faltig und unfreundlich. Die kleinen Augen taxierten Lena, bevor sie zum nächsten Kind huschten, das inzwischen hinter Lena stand.

Lena betrachtete das kleine Mädchen. Sie war höchstens sieben Jahre alt, also wesentlich jünger als die anderen, die hier waren. Die waren alle wenigstens zehn Jahre alt und ein Mädchen war bestimmt genauso alt wie Lena, wenn nicht älter.

»So. Wir sind vollständig. Also kommt. Nicht trödeln. Tanja, ich bin in 15 Minuten wieder hier. Dann holen wir die nächsten ab«, sagte der Motorradmann und wandte sich dann an die Frau in dem Kittel. »Haben Bernd und Sonja sich schon gemeldet?«
»Die wollten schon vor fünf Minuten da sein«, antwortete die Frau. »Aber du kennst ja Bernd. Die kommen sicher gleich.«
»Prima. Und Kati und Jan?«
»Ich schätze die brauchen noch zwei Stunden.«
»In Ordnung. Also los!«

Und dann liefen sie los. Keiner wagte etwas zu sagen oder zu fragen. Alle starrten nur ins Leere oder dem Motorradmann auf den Rücken, während der die sechs Kinder an einer hohen Backsteinmauer entlang von dem Parkplatz zu einem Gittertor führte. Die Frau in dem weißen Kittel lief hinter ihnen her und passte auf, dass keiner abhaute, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Die Kinder standen alle zu sehr unter Schock, um auf den Gedanken zu kommen, abzuhauen.

Zur Rechten des Gittertores hing ein metallenes Schild an der Backsteinmauer, auf dem vier große Buchstaben und darunter ein Schriftzug prangten.

Lena entzifferte: »I.R.R.T. Irrt. Institute  for Research of Reproduction and Transsexualism. Institut für die Erforschung von Reproduktion und Transsexualismus.«
»Auf Deutsch heißt das Fortpflanzung und Transsexualität«, unterbrach sie die Frau in dem Kittel unwirsch.
Der Motorradmann hatte derweil auf eine Klingel gedrückt und ein Mann kam aus einem nahegelegenen Häuschen , das direkt an der Mauer lag, gelaufen. Hinter dem Häuschen lag ein riesiger Hof und an seinem Ende ein noch größeres Gebäude. Es sah aus, als wäre es schon über 200 Jahre alt, war wie die Mauer aus Backsteinen gebaut und strahlte eine gewisse Autorität aus.

Lena spürte, wie das kleine Mädchen versuchte, ihre Hand zu nehmen. Sie wollte der Kleinen zulächeln, obwohl ihr selbst nicht nach lächeln zumute war, doch die Frau in dem Kittel kam ihr zuvor. Sie schlug dem kleinen Mädchen auf die Hand und stellte sich zwischen sie, sodass sie sich nicht mehr sehen konnten. Im nächsten Moment öffnete der Mann von drinnen das Tor und ließ die Gruppe eintreten.

Der Motorradmann führte sie über den Hof, auf dem in gleichmäßigen Abständen seltsam aussehende Gerüste standen. Der ganze Hof war asphaltiert, nur an ein paar Stellen an der Mauer standen ein paar Bäume, deren Wurzeln den Asphalt besiegt hatten. Als die Gruppe am Hauptgebäude ankam, verabschiedete sich der Motorradmann und lief zurück. Die Frau im weißen Kittel übernahm die Führung.

Sie brachte die sechs Kinder durch lange Flure in einen vollständig weißen Raum. Selbst Tische, Stühle, Fußboden und Decke waren weiß. Außerdem hatte der Raum kein Fenster. Das Licht kam aus grellen Rohren von der Decke und ein Lüftungssystem brummte.

»Wartet hier. Gleich kümmert sich jemand um euch«, verabschiedete sich die Frau mit dem Kittel, verließ den Raum und schloss die Tür ab.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt