Epilog

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»Ich bin stolz auf dich!«

Es brauchte nicht mehr Worte, um Lisas Tränen zu befreien. Sie presste sich an Anna und weinte sich an ihrer Schulter aus.

»Du hast das wirklich toll gemacht!«

Warum fühlte es sich dann nicht so an? Warum fühlte es sich an, als hätte Lisa einen riesigen Fehler gemacht? Woher kam dieses Gefühl, nie mehr glücklich sein zu können?

»Es wird alles wieder gut.«


Eine große Lüge. Eine riesengroße Lüge. Dafür hatte Lisa diese Worte damals gehalten. Doch jetzt war es Wahrheit. Es war alles wieder gut.

Anders. Aber gut.

Lisa hatte lange gebraucht, um zu verstehen, was passiert war. Dass Lena kein Junge gewesen war, und dass sie nicht wirklich die war, in die sich Lisa verknallt hatte.

Diese Person gab es nicht. Es hatte sie nie gegeben - nicht wirklich zumindest. Und dass Lisa diese Person überhaupt hatte sehen können, war wie das Werk einer bösen Hexe aus einem Märchen gewesen.

Gut, das hier war kein Märchen und das, was passiert war, keine Zauberei, aber im Grunde war es das Gleiche. Und zum Glück hatte auch dieses Märchen ein Happy End gehabt.


Zumindest für Lena und soweit Lisa wusste. Seit damals hatten sie sich nämlich nicht wiedergesehen. Das war einerseits schade aber auf der anderen Seite war es wohl für alle Seiten das Beste gewesen, die Vorkommnisse in Ruhe verarbeiten zu können und dann ihr Leben in neu eingekehrtem Frieden weiterleben zu können.

So war es wenigstens für Lisa gewesen. Inzwischen lebte sie in Lyon, wo sie seit fünf Semestern studierte. Nicht Medizin - davon hatte sie für ihr Leben genug - aber wenigstens mit Deutschland hatte es zu tun. Zumindest legte sie ihren Fokus im Studium so oft es ging auf die deutsch-französische Beziehung der jeweiligen Epoche, mit der sie sich im Rahmen des Studiums beschäftigte und untersuchte ihren Einfluss auf die historischen Ereignisse.

Die deutsch-französische Partnerschaft, war seit einigen Jahren wieder stärker denn je. Auch wenn die EU inzwischen kaum mehr existierte und immer größere Landstriche in allen Teilen der Welt unbewohnbar wurden, war für viele Einwohner beider Länder die gegenseitige Beziehung mit am wichtigsten.

Ob es damit zusammenhing, dass der Fall der deutschen Biologin mit ihren Menschenversuchen in aller Welt ausgiebig kommentiert und diskutiert worden war, würde wohl ewig ungewiss bleiben, aber seitdem bemühen sich beide Regierungen immer mehr umeinander. Das Thema der Geschlechtsangleichung und diesbezüglicher Forschung dagegen wurde konsequent in den Hintergrund gedrängt.

Eine Frau Prof. Dr. Dr. Hesse aus Frankfurt hatte im Alter von 77 Jahren ein letztes Buch auf der alljährlichen Londoner Medizinermesse vorgestellt, die seit der Ernährungskatastrophe in Indien und Pakistan 2037 stattfand. Sie wollte in diesem Buch ihr Lebenswerk mit den Menschen teilen. So zumindest hatte sie es formuliert. In jenem Buch stand viel und es gab auch ein großes Kapitel über Geschlechtsangleichung, aber Lisa, die in diesem Kontext viel an Lena und Jonas gedacht hatte, war enttäuscht darüber, dass die Dramatik im Leben der Beiden dabei so heruntergespielt worden war.


Mitten im Semester war es für Lisa nicht üblich, Besuch zu bekommen. Meistens fuhr sie nur zweimal im Jahr für ein paar Wochen nach Hause und sah ihren Vater sonst nur über Videoanrufe, aber für dieses Wochenende hatte sich ihre ganze Familie angekündigt.

Als Lisa freitags am Bahnhof stand, war sie aufgeregt und glücklich. Ihre Familie kam mit dem Zug aus Paris, mit dem schon heute hunderte Fußballfans in die Stadt kommen würden.

Normalerweise war Lisa von solchen Ereignissen genervt, denn sie mochte Fußball nicht so sehr, wie ihr Vater und ihr dreijähriger Halbbruder, aber heute freute sie sich fast darauf, denn was bevorstand, war das Championsleague-Finale der Frauen: Frankfurt gegen Barcelona. Und auch wenn es nur eine entfernte Randinformation war, die Lisa nicht einmal von Lena selbst erfahren hatte, war Lisa seither auch ein bisschen Fan von Eintracht Frankfurt. Nur weil da mal eine Freundin von Lena gespielt hatte.

Darum machte es Lisa nichts aus, als scheinbar tausende Menschen aus dem Zug und an ihr vorbeiströmten, denn sie stellte sich vor, unter ihnen sei Lena. Nur der Gedanke daran beruhigte Lisa auf unerklärliche Weise und so wartete sie geduldig auf ihren Vater und Anna und ihren kleinen Bruder.

Gerade, als sie sie entdeckt hatte und auf sie zulaufen wollte, schob sich ein Haufen Eintracht-Fans zwischen sie und ihre Familie. Jetzt doch etwas genervt, wollte Lisa um sie herumlaufen, als sie ein Mädchen in der Gruppe zu erkennen glaubte.

Es war tatsächlich Lena. Sie war eine Frau - ein Gedanke, der Lisa kurz fremd erschien - aber sie war es eindeutig. Kurz sahen sie sich in die Augen und Lisa wusste es. Das waren die Augen, in die sie sich damals verknallt hatte.

Konnte es sein?

Lena war weitergezogen und mit ihr die anderen Fans.

War sie es wirklich?

Anna umarmte Lisa und ihr Vater, der ihren Bruder auf dem Arm hielt, lächelte sie an.

Sie war es. Und vielleicht gab es ja doch ein Stück von dem Menschen wirklich, in den Lisa sich verknallt hatte. Vielleicht war es doch nicht nur Einbildung. Vielleicht, vielleicht, vielleicht...

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt