Nachspiel

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Der Ausblick durch Gitterfenster auf einen dunklen Wald. So muss es für die Kinder im Institut gewesen sein. Der Freigang im Hof, die Möglichkeiten, Sport zu machen. Erst die eigene Erfahrung hat Irina Turowski begreifen lassen, dass es tatsächlich falsch gewesen ist, was sie im Institut getan hat.

Sie hasst die Wärter. Wie die Kinder sie wohl gehasst haben müssen? Vor allem aber schmerzt die Trennung von Martin. Was sie wohl mit ihm getan haben? Irina hat Angst. Angst vor den Kindern, die sie jede Nacht im Traum heimsuchen. Angst vor den Leichen, die sie im Wald hat entsorgen lassen. Die Toten sind auferstanden und rächen sich an ihr.


»Ein gerechtes Ende.«
»Ja.«
»Hm.«
...

»Na, ihr seid mir aber heute gesprächig.«
»Was gibt's denn jetzt noch zu besprechen?«
»Vieles. Die Zukunft zum Beispiel, oder die Fehler, aus denen wir lernen können.«

»Lass es. Heute wird nicht mehr gesprochen. Heute wird getrunken und dann wird vergessen.«
»Was seid ihr denn so trübsinnig?«
»Pfft...«

»Na dann, wo ihr mir endlich mal die Bühne lasst, möchte ich etwas erzählen.«
»Dann schieß mal los.«
»Gerne. Also: es geht um Hanna. Über sie ist noch so wenig gesprochen worden.«

»Oh ja. Sehr wenig. Sie ist ja auch eine Nebenfigur.«
»Doch Gott liebt alle Menschen gleich. Da sollten wir auch Nebenfiguren berücksichtigen.«
»Wenn du meinst.«
»Meine ich. Und jetzt lasst mich erzählen!

Während ihr immer nur auf das Institut und auf Lena geschaut habt, und euch darüber aufgeregt habt, habe ich auch das Werden von Lena beobachtet.
Die anderen haben ja schon verraten, wer sie mitgenommen hat, doch ich möchte euch von dem Tag und von ihren Gefühlen erzählen.

Hanna war nämlich sehr traurig seit dem Tag, an dem Lena plötzlich nicht in der Schule war. Natürlich hatte sie den Zettel gelesen und versucht, sich darüber zu freuen, aber so recht gelungen war es ihr nicht. Sie hätte gerne die Menschen gesehen, zu denen ihre beste Freundin nun ziehen würde.

Sie hörte nichts von Lena und das enttäuschte sie. Auch wenn sie selbst nicht wusste, was genau sie erwartet hatte, aber dass sie nie mehr von Lena hören würde, dass machte sie verbittert. Es verletzte sie sogar so stark, dass sie sich auch von den anderen abwandte, die mit ihr im Zimmer wohnten. Stattdessen wurde sie immer mehr zur Einzelgängerin, die mit Dosen kickte, wann immer es ging.

Eines Tages wurde sie in der Pause von ihrem Sportlehrer Herrn Trichter ins Büro der Turnhalle gebeten. Dort wartete ein anderer Mann, der sie kritisch gemustert hatte. Dann sind sie in die Halle gegangen und Hanna musste vorführen, was sie mit einem Ball am Fuß alles konnte - natürlich auf Socken.

Eine Woche später war Hanna in Frankfurt. Für die Manager und Scouts, die sie hergebracht hatten, war sie ein Spielball. Sie war nur ein Ding, doch das begriff sie nicht. Zum Glück - sonst wäre sie heute wohl Alkoholikerin. Stattdessen glaubte sie, eine realistische Chance zu haben, einmal bei Eintracht Frankfurt spielen zu können.

Sie kämpfte und arbeitete und lebte auf Kosten des Vereins, wie man ihr später sagte. Die vielen Werbeverträge, die für sie abgeschlossen wurden und für die sie wie eine Pappkulisse herhalten musste, finanzierten ihr Leben, wobei sie von dem vielen Geld, das man damit hätte verdienen können nie auch nur einen Cent sah.

Zwei Jahre lang lebte sie in Frankfurt, als ein Thema durch die Nachrichten ging, das sie entsetzte. Auch ohne die Bilder von Lena hätte Hanna gewusst, dass sie ein Opfer dieses Experiments geworden war. Das war endlich die Erklärung für ihr rasches Verschwinden und die fehlende Rückmeldung ihrer Freundin.

Als Hanna erfuhr, dass Lena nun wieder in Trier war, wollte sie sofort dorthin, doch man ließ sie nicht. Stattdessen wurde sie eingesperrt, als sie sich wegschleichen wollte.
Mit ihrem achtzehnten Geburtstag sollte Hanna mit einem Vertrag beim Verein aufgenommen werden. Bis dahin allerdings war der Verein ihr Vormund und verfügte über ihre Zeit und ihre Kraft.

Da der Verein sie, weil sie ja ein Waisenkind ohne Papiere war, kurzerhand zwei Jahre jünger gemacht hatte, um sie in jüngeren Spielklassen einsetzen zu können, dauerte es de facto bis zu ihrem 20. Geburtstag, an dem sie ihre Freiheit bekam. Inzwischen war sie Säule im Spiel der Mannschaft und gut befreundet mit vielen Menschen - zumindest mit denen, die darüber hinwegsahen, dass sie ihr halbes Leben in einem Heim verbracht hatte.

Nach ihrem ersten Spiel als vollends freie Frau wurde Hanna von einem jungen Mann mit Kapuze und Sonnenbrille angesprochen. Es war Jonas und nach einem langen, erklärungsreichen Gespräch war der Entschluss gefasst, Lenas Traum zu erfüllen und sie mit einem weißen Mercedes-Cabriolet abzuholen.

Hanna verdiente genug für eine eigene Wohnung, in der sie und Lena später wohnten und später kauften sie sogar den weißen Mercedes-Cabriolet, den Hanna sich anfangs nur hatte leihen können.

In einem Märchen kämen jetzt wohl die Worte ›und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‹, aber in diesem Fall sehen wir uns das heute vielleicht einfach an, oder?

Es ist früher Morgen. Lena ist schon aufgestanden und macht Kaffee. Sie muss gleich zu ihrer Ausbildungsstelle für das duale Studium, das sie macht. Hanna muss erst um halb elf auf dem Trainingsgelände sein und schläft deshalb noch. Trotzdem weckt Lena sie gleich. Das macht sie jeden Morgen, denn sie weiß, dass Hanna sonst immer zu spät kommt.

Jetzt ist Hanna im Badezimmer und Lena nutzt die Zeit wie jeden Morgen, um ein paar Minuten vor ihrem kleinen, persönlichen Schrein zu beten. Hier hat sie alles versammelt, was sie an Lucien und vor allem an Amélie erinnert. Dieses Ritual ist ihr wichtig und Hanna weiß das genau. Nach der kleinen Morgenmeditation geht für beide der Tag langsam los. Ein Tag, der sich nicht groß unterscheidet von denen der anderen Leute hier in Frankfurt. Und wenig weist noch darauf hin, dass die beiden keine Eltern haben, die sie besuchen.

Wobei das nicht ganz stimmt: Ab und zu fahren Lena und Hanna nach Trier, um Vater Bölke zu besuchen. Das ist ihr Vater. Und Gott ist wenigstens für Lena wie Vater und Mutter. Einmal hat sie Hanna danach gefragt, ob sie auch noch so an Gott glaubt, aber Hanna meinte, Gott habe ihr nichts Gutes getan, außer ihr Lena wiederzubringen. Stattdessen bringt sie ihre Dankbarkeit der Trainerin entgegen, die sie ohne Kommentare stets so behandelt hat wie alle anderen.«

...
zzz
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zzzzzzz
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zzz
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»Und solange die beiden schlafen, können wir die letzten Zeilen der Geschichte endlich genießen. Auf Wiedersehen!«


Bisher hat Irina nie an einen Gott geglaubt. Durch Zufall hat sie während der Verhandlungen über ihre Haftstrafe aber erfahren, was die drei Buchstaben an den Wänden bedeuteten. Und nun glaubt sie.

Sie kann nichts dagegen tun. Ständig versucht sie, sich selbst begreiflich zu machen, dass es keine Geister gibt. Eigentlich weiß sie ja, dass niemand in diese Zelle kommt außer den Wärtern.

Trotzdem sucht sie der Spuk heim. Die Kinder kommen jede Nacht und jede Nacht wird es schlimmer. Und heute Nacht ist es unerträglich. Nackt erhängt sich die einst erfolgreiche Biologin mit ihrer Gefangenenkleidung, die sie am Gitterfenster befestigt hat.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt