VII

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»Ester war ein jüdisches Mädchen in Persien«, begann Lena. »Ihr Großvater war mit vielen anderen Juden verschleppt worden und diese Menschen und ihre Nachfahren mussten alle in Gefangenschaft leben und arbeiten. Doch die jüdischen Menschen blieben standhaft und ihrem Volk und ihrem Gott treu.
Eines Tages veranstaltete der König von Persien in seinem Palast ein Fest für all seine Fürsten und reichen Untertanen, um seinen Reichtum und seine Macht zur Schau zu stellen. Dieses Fest sollte 180 Tage lang dauern, doch bereits am siebten Tag kam es zu einem Zwischenfall: Der König ließ nach seiner Königin rufen, denn er wollte sie seinen Fürsten zeigen, doch die Königin kam nicht. Sie weigerte sich, dem Ruf des Königs zu folgen, da sie mit den Frauen der Fürsten feierte.
Da wurde der König zornig und verstieß seine Königin und veranlasste, dass sie gehängt werden sollte, wenn sie wieder an diesen Hof zurückkehren sollte.«

»Was für ein Unmensch!«, regte sich Jonas auf. »Wie kann man nur so böse sein? Nur weil sie einmal nicht sofort gekommen ist. Und ohne vorher was anzudrohen! Einfach rausschmeißen!«
»Tja«, erwiderte Lena. »So war das damals. Der König war wirklich sehr beleidigt, denn seine Frau hatte ihn vor allen seinen Fürsten bloßgestellt. Und so erließ der König ein Gesetz, nach dem jeder Mann in seinem Reich über seine Frau verfügen konnte, so wie er über seine Frau verfügen wollte.«
Nun musste Jonas lachen. »Jaja. Einfach ein Gesetz erlassen. Was für ein Scheißkerl!«

Lena schmunzelte. »Aber es geht ja noch weiter: Der König brauchte ja nun wieder eine Königin. Und hier kommt unsere gute Ester ins Spiel. Esters Eltern waren beide gestorben, deshalb lebte sie bei ihrem alten Onkel Mordechai. Der hörte davon, dass der König alle schönen Jungfrauen seines Reiches zusammenrufen ließ, um die schönste unter ihnen zu seiner neuen Königin zu machen und er brachte Ester zu den anderen schönen Frauen.«

»Lass mich raten: Der König findet Ester am schönsten«, rief Jonas dazwischen.
»Natürlich«, grinste Lena. »Aber Ester war Jüdin und keine Perserin. Und das verschwieg sie dem König, weil Mordechai es ihr so gesagt hatte.«
»Lass mich nochmal raten: Das wird noch zum Problem«, grinste Jonas.
»Warte es ab«, entgegnete Lena.

»Mordechai, der im Palast des Königs als Diener arbeitete, erfuhr eines Tages per Zufall von einem geplanten Mordkomplott gegen den König und erzählte Ester davon. Die sagte es dem König und so wurde ein Mordversuch am König vereitelt und der schrieb das in der Chronik auf und dazu den Namen Mordechais.«

Lena machte eine kleine Pause, bevor sie den nächsten Handlungsstrang der Geschichte aufnahm: »Da gab es nun aber auch den Fürsten Haman, den der König zum obersten seiner Fürsten machte. Und auf Befehl des Königs knieten alle vor ihm nieder, bis auf Mordechai. Da wurde Haman sehr böse auf Mordechai und wollte ihn töten lassen. Als er aber erfuhr, dass Mordechai Jude war, wollte er nicht nur ihn, sondern alle Juden töten lassen. Und er überredete den König ein solches Gesetz zu erlassen und per Los entscheiden zu lassen, an welchem Tag er alle Juden töten lassen solle. Und er versprach dem König, dass er wenn er ein solches Gesetz erließe, er ihm dann sehr viele Reichtümer in die königlichen Schatzkammern bringen ließe, die er von den Juden zu stehlen gedachte.«

»Also wie die Nazis«, erkannte Jonas und verzog das Gesicht. »Noch so ein böser Mensch. Und der König war bestimmt dabei, oder?«
»Jup. Der König war voll dabei. Haman versprach ihm so viel Geld, dass ihm egal war, wie viele Menschen dafür sterben mussten.
Also wurde so ein Gesetz geschrieben und natürlich erfuhr Mordechai mit als erster davon. Er erzählte es Ester und gemeinsam überlegten sie, wie sie den König umstimmen könnten. Gleichzeitig ließ Haman vor seinem eigenen Haus einen großen Galgen bauen, an dem er Mordechai erhängen wollte.
Der König aber hatte gerade etwas Zeit und las in seiner Chronik. Und er las über Mordechai und die Vereitelung des Mordkomplotts, als Haman zu ihm kam. Und der König fragte Haman, was man mit einem Mann tun sollte, der sich so um seinen König verdient gemacht hatte und Haman listete vieles auf, was er gerne hätte, was ihm widerfahren sollte, weil er glaubte, der König meine ihn. Doch der König sagte, als Haman fertig war: ›Dann gehe und tue all das mit Mordechai.‹«

Jonas lachte laut und schadenfroh. »Das ist Karma! Das ist die Definition von Karma!«
Auch Lena lächelte und sagte: »Es kommt noch besser. In der Zeit, in der Haman mit Mordechai durch die Stadt zieht, um ihm zu huldigen, geht Ester zum König und lädt ihn zu einem Abendessen ein, das sie mit Haman vorbereiten will. Und außerdem erzählt sie dem König davon, dass Haman alle Juden töten lassen möchte, weil Mordechai Jude ist und er ihn hasst und dass auch sie Jüdin ist.«

»Oha! Jetzt kommt's! Ist der König ein komplettes Arschloch oder hält er wenigstens zu seiner Frau?«
»Tja. Haman ist immer noch gedemütigt von der Sache mit Mordechai, doch er geht darauf ein, mit Ester ein Mahl für den König vorzubereiten und ist sehr stolz, als der König wirklich kommt. Damals war das nämlich eine große Ehre, wenn man jemanden zu Gast hatte, der gesellschaftlich höher gestellt war. Der König aber unterhielt sich beim Mahl mit den beiden über das Gesetz, das er auf Hamans Wunsch erlassen hatte und enthüllte schließlich, dass er Hamans niedere Absichten kannte und befahl, ihn zu erhängen. Und einige seiner Diener sagten zum König: ›Haman hat einen Galgen vor seinem eigenen Haus gebaut‹ und so befahl der König, Haman an diesem Galgen zu erhängen.«

Lena machte eine Pause, doch an dieser Stelle fiel es Jonas offenbar schwer, etwas zu kommentieren. Schließlich rang er sich zu einem »Dieser König ist ein Scheißkerl. Ein monstermäßiger Scheißkerl!« durch.
Auf Lenas fragenden Blick erklärte er: »Klar hat dieser Haman Mist gebaut. Aber was ist mit den anderen, die in dem Haus wohnen? Das ist genauso, wie alle Juden für das verantwortlich zu machen, was Mordechai gemacht hat. Wenn er ihn schon erhängen muss, dann doch wenigstens da, wo alle anderen auch erhängt werden.«

»Naja. Eigentlich war das noch nicht genug Demütigung für den König. Er hat nämlich Mordechai zum neuen Herrn des Hauses von Haman gemacht und ihm all seine Titel gegeben. Und so wurde Mordechai zum angesehensten Juden im ganzen Perserreich«, beendete Lena ihre Geschichte.
»Und was war mit dem Gesetz?«, fragte Jonas. »Wurde das aufgehoben?«

»Das wurde sofort aufgehoben, aber die Perser haben trotzdem versucht, die Juden umzubringen. Doch den Juden wurde erlaubt, sich zu wehren und so schlossen sie sich im ganzen Land zusammen, in jeder Stadt trafen sich alle Juden und töteten ihre Feinde. Aber den Teil der Geschichte finde ich immer so hässlich. Deswegen versuche ich immer, das zu überspringen.«

»Du hast gesagt, das wäre deine Lieblingsgeschichte«, sagte Jonas nach einer Pause. »Warum?«
»Weil Ester so eine starke Frau ist«, antwortete Lena. »Am Anfang war sie schüchtern und hat sich von Männern sagen lassen, was sie tun sollte und am Ende hat sie dem König gesagt, was er tun soll. Sie ist zum König gegangen, obwohl es ihr eigentlich verboten war und sie dafür hätte gehängt werden können, wenn der König ihn nicht Gnade gewährt hätte. Sie hat bewiesen, dass sie in dieser Welt von Komplotten, die die Männer gegeneinander schmieden genauso mithalten kann und dass sie als Frau nicht nur hübsch und gut anzusehen ist, wie die alte Königin, sondern den König in seinen Entscheidungen auch beeinflussen kann.«

Jonas nickte, doch ansonsten blieb er stumm. Den ganzen Abend wechselten sie kein weiteres Wort mehr, bis beide eingeschlafen waren.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt