II

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Es war Lena als ginge im Zimmer die Sonne auf und würde die herbstliche Kühle vertreiben, als sie Amélie sah. Strahlend lief sie auf das Bett zu, um die Darinliegende zu umarmen. Amélie umarmte ihrerseits Lena nur zögernd zurück und drückte sie relativ schnell von sich weg.
»Ich habe einen Penis«, sagte sie klar und war den Tränen sehr nah.

»Ich doch auch«, versuchte Lena Amélie zu beruhigen, während sie ihren Kopf auf Amélies Schulter legte.
»Wie hältst du das aus, Lena?«, fragte Amélie schließlich nach einer Pause.
»Was?«
»Einen Penis zu haben.«
»Nun... Also... Indem ich vergessen habe, was es heißt, keinen Penis gehabt zu haben. Ich denke so wenig darüber nach, wie möglich. Das macht es erträglich.«

Lena konnte sich gut in Amélie einfühlen, immerhin hatte sie das gleiche selbst erlebt, doch auch nach einigen Tagen blieb in Lena das Gefühl, dass Amélie heftiger darauf reagierte als sie selbst. Jonas und Lucien waren weniger emotional, doch auch die beiden gaben sich an diesem Tag und an den Folgenden gegenseitig Halt.

Wie damals Lena und Jonas konnten Amélie und Lucien wochenlang das Bett nicht richtig verlassen. Solange kamen Lena und Jonas jeden Tag vorbei und mit der Zeit ging es den beiden immer besser, auch wenn sich Amélie mit ihrem neuen Penis nicht so recht anfreunden wollte.

Eines Tages dann bekamen Amélie und Lucien die Erlaubnis, wieder ins Tagesgeschehen einzusteigen. Sich langsam an die Übungen herantastend, die sie vor ihrer OP gemacht hatten, stellten die beiden nur höchst widerwillig fest, dass sich die Kräfteverhältnisse nun mit jedem Tag weiter ins Gegenteil verkehrten. Während Lena ihre Vorteile aus der Entwicklung gezogen hatte, nun stärker als Jonas zu sein, wollte sich Amélie überhaupt nicht damit abfinden. Sie versuchte sogar, die Übungsstunden zu schwänzen, damit Lucien stärker werden konnte als sie.

Lena und Jonas konnten sich dieses Verhalten genauso wenig erklären wie die Kittelmenschen, die sie bei den Übungen überwachten. Während Amélie nun also gezwungen werden musste, Übungen zu machen, entwickelte Lena eine Vorliebe dafür, mit allem, was gerade auf dem Boden lag, Fußball zu spielen. Anders als Lucien und Jonas, die so hart wie möglich gegen die Blechdosen oder kleinen Steinchen traten, versuchte Lena möglichst präzise selbstgesteckte Ziele mit ihren Schüssen zu treffen. Den meisten Spaß machte es ihr, wenn ein Steinchen oder eine Kastanie erst mit einer hübschen Drehung durch die Luft flog, bevor sie ihre Ziele erreichte.

Amélie dagegen wollte überhaupt nicht Fußball spielen. Sie verschloss sich vor allem und vor jedem und ließ nur Lena noch an sich heran, doch auch das hatte seine Grenzen. Beispielsweise das Thema Penis: es war relativ schnell nicht nur der Penis an sich, sondern auch das Thema Junge-Mädchen, das Amélie sich sofort verschließen ließ. Nicht einmal Lena kam dann noch an sie heran und dieser Zustand hielt sich meistens noch für den Rest des Tages.

Die vier Kinder hielten sich an das Verbot, nachts die Betten zu verlassen. Vor allem Lena verzehrte sich zwar nach Amélie, doch sie hielt sich an das, was ihr gesagt wurde und so beschränkten sich ihre Interaktionszeiträume auf die Zeiten zwischen Frühstück und Mittagessen und das abendliche Klettern und das Abendessen.

Das Jahr war schon weit fortgeschritten, als die vier Kinder aus dem Kraftraum nicht zu den anderen gebracht wurden, wo sie Geduldsspiele lösen sollten, sondern auf den Hof geführt wurden, wo der Transporter der Wäscherei aus dem nächsten Dorf stand.
»Ihr helft beim Entladen und Wiederbeladen des Transporters«, befahl der Motorradmann, der daraufhin wieder im Haus verschwand.

Erst standen die vier etwas verloren da, doch dann trat die Tochter des Wäschereimeisters aus dem alten Schuppen, vor dem der Transporter stand und lächelte sie an.
»Seid ihr die, die uns helfen? Kommt mit!«
Das Mädchen erklärte den anderen, welche Wäsche wohin gebracht werden musste und so machten sie sich zu fünft daran, die großen Kisten mit gleichfarbiger Wäsche in den Schuppen zu bringen. Unterwegs begegnete ihnen der Wäschereimeister persönlich, der allen ein halbes Lächeln schenkte. Erst in diesem Moment fiel Lena auf, dass sie seit Lukas keinen Erwachsenen mehr wirklich lächeln gesehen hatte.

Während sich der Wäschereimeister noch mit den Kittelmenschen unterhielt und der Wagen schon wieder vollbeladen mit schmutziger Wäsche war, unterhielten sich die fünf Kinder am Rand des Hofes unter einer Kastanie.
»Wie heißt ihr denn eigentlich?«, begann die Wäscherstochter. »Ich bin Lisa.«
»Ich bin 478 und das sind 934, 480 und 635«, antwortete Lena und versuchte so ernst wie möglich zu bleiben.
»Was?«, fragte Lisa schockiert. »Ihr habt Nummern und überhaupt keine Namen?«
»Nein, so läuft das hier im Institut nun mal«, erklärte Jonas genauso ernst. »Jeder hat eine individuelle dreistellige Zahl.«
»Und vor dem Institut? Da müsst ihr doch Namen gehabt haben!«, rief Lisa verwundert und ein wenig zweifelnd.
»Das weiß ich nicht mehr«, antwortete Lucien und lächelte. »Das macht aber auch nichts. Das Leben mit einer Nummer ist gar nicht so schlimm.«

»Und ihr könnt euch wirklich nicht an eure echten Namen erinnern?«, fragte Lisa so verzweifelt, dass Jonas plötzlich losprustete.
»Doch, natürlich«, erwiderte Lena schmunzelnd. »Wir sind Lena, Jonas, Lucien und Amélie.«
Lena hatte jeweils auf die genannte Person gezeigt und Lisa schaute hinterher genauso zweifelnd wie vorher.
»Also du bist Jonas«, sagte sie schließlich zu Lena und an Jonas gewandt ergänzte sie: »und du bist Lena. Ja?«

»Nein, genau umgekehrt«, antwortete Jonas und lächelte. »Ernsthaft, Lisa. Ich heiße Jonas und sie heißt Lena. Und das ist kein Scherz.«
»Und warum hast du einen Jungennamen? Du bist doch ein Mädchen«, fragte Lisa völlig perplex.
»Das ist ein schwieriges Thema«, unterbrach Lena schnell und legte wie nebenbei einen Arm um Amélie. »Fang am besten gar nicht mit Junge-Mädchen an. Wir sind hier im Institut, weil die Forscher hier uns umoperiert haben. Ich war ein Mädchen, als ich hergebracht wurde. Und Jonas war ein Junge. Und als solche betrachten wir uns immer noch. Und mit Amélie und Lucien ist es genauso.«
»Wow«, staunte Lisa. »Und ihr lasst das freiwillig mit euch machen?«

Lucien zog zischend die Luft zwischen den Zähnen ein. »Freiwillig ist das hier nicht. Wir wurden quasi hierher entführt. Alle aus unterschiedlichen Gegenden: Lisa war ein Waisenkind in Trier, ich komme aus Brüssel, Jonas aus Berlin und Amélie kommt aus Péronne. Keiner von uns ist freiwillig hier, aber wir versuchen das so gut es geht zu verdrängen.«
Die Stimmung zwischen den fünfen war gedrückt und vom Wagen aus rief Lisas Vater nach ihr. Mit gesenkten Köpfen und in Gedanken versunken machten sich die vier anderen auf den Weg zum Mittagessen.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt