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Das Leben mit Penis war überraschend schwer. Lena wusste zwar nicht so recht, was sie sich vorgestellt hatte, aber es war auf jeden Fall schwer. In vielen Hinsichten. Und vor allem wurde Lena sich mit jedem Tag fremder.
Sie hatte gedacht, sie sei Leiderprobt gewesen. Sie hatte gedacht, in der Schule seien ihr alle Gemeinheiten widerfahren, die ein Mensch sich ausdenken konnte. Und sie hatte die Erfahrung gemacht, dass was immer die anderen auch taten – irgendwann war es vorbei. Doch hier nicht.

Lena lebte nun bereits seit vier Wochen bewusst mit einem Penis. Niemand hatte ihnen gesagt, wie lange sie nach der OP geschlafen hatten. Aber selbst diese vier Wochen ließen Lena verzweifeln.
Wenn Felix ihr Pausenbrot gegessen hatte oder Jonas ihr Frühstück; wenn die anderen Kinder sie auf dem Schulhof mit Schneebällen in einer Ecke umzingelt hatten oder wenn ihr im Klassenzimmer der Stuhl weggezogen wurde, dann hatte Lena weinen wollen und sich wehren. Und später hat sie es nur noch über sich ergehen lassen. Doch nun war da etwas, das sich nicht mehr ändern würde: Lena würde für den Rest ihres Lebens mit einem Penis pinkeln. Das war jetzt nicht mehr rückgängig zu machen.

Jeden Tag wünschte Lena sich, dass morgen alles vorbei sei. Sie wünschte sich manchmal sogar ins Heim zurück, denn dort hatte sie wenigstens Freunde gehabt. Freunde, die sie fröhlich zurückgelassen hatte, wie sie sich beschämt erinnerte.

Jede Nacht hatte Lena den selben schlimmen Albtraum, in dem sie sich selbst sah, wie ihr Bauch aufgeschnitten wurde und ihre Organe herausgenommen wurden, bis eine Frau im weißen Kittel zu allerletzt ihr Herz aus ihrer Brust nahm und vor ihren Augen von der letzten Ader trennte, mit der es noch an ihrem Körper hing.

Jonas schien es derweil nicht viel besser zu gehen – auch wenn er sich bemühte, das nicht zu zeigen. Jonas war immer noch gemein zu Lena, wann immer es ging. Trotzdem empfand Lena tief in sich Mitleid für ihn, denn er steckte in einer sehr ähnlichen Lage wie sie. Und nur für Jonas verbat sich Lena jegliche Gedanken an Selbstmord.

Es schien auf den ersten Blick die Lösung zu sein, als sie eines Morgens durch den Albtraum aufgewacht war und ihr Unterleib so heftig schmerzte, dass sie meinte, daran zu sterben. Die Schmerzen gingen zwar vorbei, aber der Penis blieb und mit ihm die Abscheu. Lena hasste alles an diesem Ding, sie störte der Hoden gewaltig und sie fand das alles ekelhaft und falsch. Doch je mehr sie darüber nachdachte, was so schlimm daran war, desto tiefer rutschte sie in düstere Gedanken, die sie irgendwann zum Selbstmord führten – der perfekten Lösung. Leben konnte sie mit diesem Ding nicht und die Ärzte hatten gleich klargemacht, dass das Experiment perfekt gelungen war und sie überhaupt kein Interesse daran hatten, sie beide nochmal zu operieren.

Doch es gab zwei Probleme beim Selbstmord: erstens wollte Lena Jonas nicht alleine lassen und zweitens spürte Lena tief in ihrem Inneren, dass sie den Ärzten nicht den Triumph gönnen wollte, ihr Leben zerstört zu haben. Sie wollte kämpfen. Kämpfen, um wieder sie selbst werden zu können.

Es dauerte insgesamt acht Wochen, bis Lena und Jonas wieder aufstehen konnten und es war ein Albtraum. Zwar durften Lena und Jonas sich so oft sie wollten wieder hinsetzen, aber am ersten Tag schaffte es keiner von beiden, auch nur länger als ein paar Sekunden aufrecht alleine zu stehen. Erst am vierten Tag konnte Lena das Zimmer durchqueren, ohne zwischendurch hinzufallen und Jonas brauchte sogar acht Tage dazu.
Gleichzeitig fühlten sich Lenas Beine auch nicht nach ihren Beinen an. Lena hatte das Gefühl, in einem komplett fremdem Körper zu stecken und wunderte sich jeden Tag etwas mehr.

Jonas hatte das gleiche Problem, nur wurmte ihn noch viel mehr, dass er wesentlich schwächer geworden war. Als er das erste Mal nach der OP versucht hatte, Lena zu packen und in den Schwitzkasten zu nehmen, hatte sie sich in Sekunden befreit und ihn in den Schwitzkasten genommen. Seitdem am nächsten Tag der Motorradmann ihm erklärt hatte, dass bei ihm nun die Kraft ›in die Birne‹ ging und ›bei ihr hier in die Muckis‹, fing er an, sich anders zu verhalten. Es schien fast, als würde er sich jeden Tag davor fürchten, von Lena verprügelt zu werden, doch die dachte gar nicht daran.

Stattdessen redete sie mit Jonas. Lange Gespräche am Abend halfen beiden sehr dabei, sich kennenzulernen. Zuerst unterhielten sich beide nur über kleine Details aus ihrem Leben. Jonas hatte wie Lena keine Eltern. Sie beide waren in Körbchen vor der Tür eines Kinderheimes abgegeben worden, so wie viele Kinder. Es konnte nicht nachverfolgt werden, wer die Eltern waren und oftmals waren es nicht einmal die Eltern, die diese Kinder schließlich zum Heim brachten.
Außerdem war Jonas leidenschaftlicher Fußballfan. Er schwor auf Eisern Union und hasste nur die Bayern mehr als Hertha BSC. Doch je mehr er über Fußball sprach, desto sicherer wurde Lena sich, dass Jonas auch Hertha BSC eigentlich ganz cool fand. Immerhin hatte er einen Kumpel, der dort in der Jugend Fußball spielte.

Lena musste schmunzeln, als Jonas versuchte, ihr beizubringen, was Abseits ist. Auch wenn sie selbst nicht Fußball spielte, wusste Lena das alles von Hanna, die mit einer Dose besser Fußball spielen konnte als jeder Junge der Schule mit einem Ball. Spontan schickte Lena ein Stoßgebet zu Gott, er möge Hanna in eine Profimannschaft bringen. Vielleicht sogar nach Frankfurt zu Laura Freigang. Die WM-Heldin von 2027 war Hannas großes Idol und dort Trainerin der ersten Frauenmannschaft der Eintracht.

Als Lena Jonas davon erzählte, war er überrascht, doch nach einigen Minuten hatte auch er Mitgefühl für Hanna und betete brav mit Lena mit.

So kamen sie auf das Thema Gott und die Kirche und Lena war fassungslos, zu hören, dass es in Berlin keinen Religionsunterricht gab. So erzählte Lena Jonas alle Bibelgeschichten, die sie kannte. Von der Arche Noah und von Abraham, der mit über hundert Jahren noch ein Kind bekommen hatte, von Josef, der von seinen Brüdern erst verstoßen wurde und ihnen dann Weizen und ein Zuhause beschaffte, von Jona, der vom Wal verschluckt wurde und von David, der gegen Goliath gewann, indem er – der kleine Hirte und Sänger – mit einer Schleuder einen Stein in das Auge des großen Kriegers Goliath schoss und ihn so zu Fall brachte.

Jonas hörte sich all diese Geschichten an und erzählte dann etwas, das er mit einzelnen Worten dieser Geschichten verband. Vom DFB-Pokal, wo in der ersten Runde von David gegen Goliath die Rede war, von Jonas und dem Walfisch, wie er es nannte, was bei ihnen an der Schule immer Beweis dafür gewesen war, dass die Bibel und Religion allgemein Schwachsinn sind – weil: wer bitte glaubt daran, dass Wale Fische sind?! Völlig bescheuert!
Bei Josef fand Jonas, das die Brüder etwas netter hätten sein können. Den eigenen Bruder in einen Brunnen zu schubsen, weil er vom Vater einen tollen Mantel bekommen hatte, war ihm suspekt.

Die Arche verband Jonas mit einer Organisation, die sich in seinem alten Kinderheim mit darum kümmerte, dass genug zu essen da war. Die Leute der Organisation hatten immer tolle T-Shirts an mit einem bunten ›Die Arche‹-Logo darauf. Und Abraham war der Name einer großen Sängerin, die in Berlin lebte und oft Geld spendete oder zu Besuch gekommen war und mit den Kindern gemeinsam gesungen hatte.

Und je mehr Geschichten Lena Jonas erzählte, desto sicherer war sie sich, dass er nichts gegen ihre Lieblingsgeschichte aus der Bibel sagen würde. Also erzählte sie ihm an einem Abend von Ester, der mutigen Perserkönigin.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt