Zwei Tage nachdem Lena wieder zu Jonas aufs Zimmer gebracht worden war, veränderte sich etwas Grundlegendes für sie: von nun an standen sie jeden Tag um sieben Uhr auf, wurden mit anderen Kindern in eine große Gemeinschaftsdusche für alle geschickt und aßen anschließend mit ihnen gemeinsam Frühstück in einem großen Speisesaal.
Beim Frühstück stellte sich auch heraus, dass nicht nur Kinder in diesem Institut waren, sondern auch einige Erwachsene. Aber kein Kittelträger war in diesem Raum. Alle die hier waren trugen weiße Hosen und weiße Westen mit farbigen Hemden darunter und weiße Socken und Schuhe. Die Hemden gab es in vier Farben: rot, blau, grün und gelb. Rot trugen die wenigsten, die anderen Farben schienen aber relativ gleichmäßig verteilt zu sein.
Nach dem Frühstück wurden Lena und Jonas in den Kraftraum geschickt, wo sie zwei Stunden trainieren mussten. Danach mussten sie in einem anderen Zimmer Geduldsspiele lösen. Lena schaffte sie alle ziemlich schnell – nur eins schaffte sie nicht: ein Schiebepuzzle, bei dem man auf einem 4x4-Quadrat die Zahlen von 1 bis 15 in der richtigen Reihenfolge anordnen musste. Jedes Mal wenn sie glaubte, sie hätte es geschafft, waren die 14 und die 15 vertauscht.
Nach den Geduldsspielen ging es zum Mittagessen und anschließend in eine Art Schule. Hier wurden sie erst auf ihr Vorwissen getestet und dann in eine Klasse gesteckt. In dieser Schule bekamen sie ein wenig Mathematikunterricht und ein wenig Deutsch- und Französischunterricht und jeden Tag Biologie- und Chemieunterricht. Nach dem Abendessen wurden alle zusammen auf den Hof gescheucht, wo sie an den seltsamen Gerüsten herumklettern mussten, die Lena damals bei ihrer Ankunft aufgefallen waren.
Bei diesem Gedanken erinnerte sich Lena auch wieder an das kleine Mädchen, das sie damals hatte trösten müssen, doch sie konnte sie nicht entdecken.
Waren die zwei Stunden Sport am Vormittag anfangs noch die pure Folter, wurden sie schließlich zum einzig positiven Erlebnis am Tag. Die Geduldsspiele wurden irgendwann entweder langweilig oder höllisch schwer und im Unterricht kümmerten sich die Menschen in den weißen Kitteln, die vorne standen und redeten nicht wirklich darum, ob man etwas mitbekam und so schliefen die meisten im Unterricht. Vor allem in Bio und Chemie verstand man sowieso kein Wort von dem, was gesagt wurde.
Außerdem fiel es Lena von Tag zu Tag leichter, die Gewichte zu stemmen oder die Runden über den Hof zu laufen und auch Jonas machte dahingehend Fortschritte, doch im Zweikampf der beiden, den sie zum Abschluss jeder Tageseinheit führen mussten, war er ihr immer unterlegen.
Da der Tagesablauf allgemein ziemlich eintönig war, wäre es wohl ziemlich schnell sehr langweilig für Lena und Jonas geworden, wenn sie nicht Amélie und Lucien kennengelernt hätten.Sie trafen sich eines Tages beim Frühstück. Amélie war zu ihnen an den Tisch gekommen und hatte schüchtern gefragt, ob sie sich dazusetzen könnten. Sie und Lucien trugen rot – so wie Lena und Jonas – und wirkten ziemlich verloren, weshalb Lena sofort versuchte, ihnen ein sicheres Gefühl zu geben. Amélie kam aus Frankreich und Lucien aus Belgien, daher sprachen beide nicht besonders gut Deutsch, aber sie konnten sich verständigen und so unterhielten sich die vier Jugendlichen in einer kunterbunten Mischung aus Französisch, Deutsch und Englisch.
Amélie und Lucien hatten den selben Tagesablauf wie Lena und Jonas. So lernten sie sich schnell kennen und machten sich gegenseitig das Leben im Institut ein wenig schöner. So brachte Amélie Lena einmal ein Gänseblümchen, das sie am Rand des asphaltierten Innenhofes beim abendlichen Klettern gefunden hatte und Jonas und Lucien unterhielten sich über die besten Fußballmannschaften Europas. Dabei stellten sie auch fest, dass Lena und Jonas höchstens ein halbes Jahr länger im Institut sein konnten als Amélie und Lucien.
Die beiden anderen Kinder ließen Lena sogar fast vergessen, welche Gefühle sie für ihren neuen Körper empfand. Allerdings nur fast, denn eines Tages schnitt Amélie dieses heikle Thema an.
Als sie und Lena gerade bei den Geduldsspielen zu zweit saßen, fragte sie: »Du, Lena? Dit moi, wer von euch deux ist jetzt eigentlich le garçon et qui est la fille?«
»Je suis la fille, eigentlich«, erwiderte Lena und runzelte kurz die Stirn. »Wieso fragst du? Pourquoi tu demandes?«
»Weil... Parce-que... Je pense, que... Ich sehe dich und denke du bist ein Junge. Und ich sehe Jonas und denke, das ist ein Mädchen.«
»Das liegt an der OP«, erklärte Lena. »Wenn die beiden anderen dabei sind, erzählen wir es euch, d'accord? Beim Mittagessen.«Nachdem Jonas am Ende des Mittagessens den Verdacht geäußert hatte, dass die Hemdfarben etwas mit den Experimenten zu tun hätten und dass Amélie und Lucien diese Operation vielleicht auch bevorstünde, war die Stimmung gedrückt. So blieb es auch mehrere Tage, bis eines Abends Amélie auf die Idee kam, mit Lucien zu Lena und Jonas ins Zimmer zu kommen. Seit Lena und Jonas den neuen Tagesablauf hatten, wurde ihre Tür erst spätabends abgeschlossen und frühmorgens wieder geöffnet.
Sich das zunutze machend versteckten sich Amélie und Lucien bis die Zimmer abgeschlossen wurden. Dann unterhielten sie sich noch zu viert, bis schließlich Amélie bei Lena und Lucien bei Jonas im Bett einschliefen. Sie wurden von der Wäschefrau schließlich aus den Betten geschrien, die sofort großen Alarm schlug. Während Lena sich vor der Frau am liebsten versteckt hätte, war Amélie sehr frech bis der Motorradmann kam und Amélie und Lucien mit sich schleifte.
Den Rest der Nacht konnte Lena kaum schlafen, doch am nächsten Morgen kam beim Frühstück die Erlösung: Amélie und Lucien saßen beide munter an einem der Tische und vor dem Kraftraum wurden sie vom Motorradmann aufgehalten, der sagte: »Wir haben uns entschlossen, deine Bitte bis auf weiteres zu erfüllen, Mädchen. Ihr könnt für einige Zeit solche Übernachtungen machen, aber nur solange wir es erlauben. Und es wird ganz sicher der Tag kommen, an dem wir es verbieten. Und dann müsst ihr euch unbedingt daran halten!«
Der Motorradmann hatte mit Amélie gesprochen. Jetzt wandte er sich an alle vier: »Und das geht nur in eine Richtung. Ihr beiden« – er zeigte auf Lena und Jonas – »dürft die Nacht unter keinen Umständen außerhalb eurer eigenen Betten verbringen!«
Lena kam die ganze Sache sehr seltsam vor. Auch wenn sie es so gut es ging verdrängte, waren sie hier Gefangene. Entführt und zu Versuchskaninchen gemacht. Diese Menschen in den weißen Kitteln waren skrupellos, grausam und kalt. Und jetzt versuchte dieser gruselige Motorradmann, eine Klassenfahrts- Schrägstrich Jugendherbergsstimmung zu verbreiten?
Was sollte das mit diesem: »Ihr dürft« und »Wir erlauben euch«? Was war das für eine seltsame Masche? Wollten diese Kittelmenschen ein wenig menschlicher erscheinen? Oder war das ganze nur ein Ablenkungsmanöver, um morgen mit der nächsten großen Scheiße zu kommen, die alle vier psychisch völlig kaputtmachen würde?Den ganzen Tag suchte Lena nach dem Haken an der Sache, doch sie wurde nicht fündig. Und als Amélie die nächsten zwei Nächte bei ihr im gleichen Bett geschlafen hatte, gab sie es auf und freute sich über ihre neue beste Freundin.
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WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbst
PrzygodoweIm Institute for Research of Reproduction and Transsexualism - kurz IRRT - wird die Zukunft der Medizin erforscht. Als Dr. Turowski im Jahre 2074 den Durchbruch in ihrem Forschungsprojekt erzielt, ist sie sich sicher, Gottes Werk vollbracht zu haben...