IX

6 1 1
                                    

Die nächsten Tage, Wochen und Monate wurden anstrengend für Lena und Jonas. Für die Polizei mussten sie Aussagen machen und für die Presse wurden sie zu Statements genötigt. Vater Bölke übernahm so viele Statements wie möglich, aber manche gaben sich damit nicht zufrieden und drohten mit Einbruch in das Kinderheim, wenn Lena und Jonas nicht zu ihnen kamen.

Und dann waren da noch die Ärzte. Ein Team von Ärzten unter der Leitung der 75-Jährigen Frau Prof. Dr. Dr. Hesse sichtete die Unterlagen, die Lena und Jonas aus dem Institut hatten mitgehen lassen. Auch einige andere Daten konnten von Der Polizei noch sichergestellt werden, doch die Papierakten waren beim Eindringen der Polizei auf das Gelände alle verbrannt.

Die Ärzte stellten Lena und Jonas in Aussicht, dass sie sie möglicherweise operieren konnten, damit jeder wieder ganz in seinem Körper lebte. Und schnell musste es auch gehen, denn Lena und Jonas litten schnell unter dem Entzug der Hormone, die sie im Institut jeden Morgen zum Frühstück bekommen hatten. Die ganz eigene Formel, die die Kittelmenschen entwickelt hatten ließ sich einfach nicht replizieren.

Solange sie aber noch auf die Operation warten mussten, lebten Lena und Jonas im Matthäusheim in Lenas altem Zimmer. Frau Braun entschied, dass Jonas ja momentan noch ein Mädchen sei und deshalb Hannas altes Bett bekommen dürfe.
Als Lena nach ihr fragte, wussten die anderen keine rechte Antwort zu geben. Schließlich sagte Lucy: »Hanna wurde etwa ein Jahr nach dir abgeholt. Es war ein unfreundlicher Mann, der Frau Braun irgendwelche Papiere gezeigt hat und sie dann einfach mitgenommen hat.«
»Vorher war er auf dem Schulhof und hat uns in den Pausen beobachtet«, ergänzte Becca. »Den ganzen Tag. Richtig unheimlich war der.«

So hörte Lena nichts weiter von Hanna. Stattdessen lebte sie sich wieder richtig im Heim ein und erfuhr in der Schule, wie weit sie im Stoff zurückhing. Gemeinsam mit Jonas ging sie daraufhin zwei Jahrgänge unter ihren Freundinnen in die Klasse. Aufgrund der Muskeln, die sie durch das tägliche Training im Institut aufgebaut hatte, und dem Altersunterschied waren die beiden ziemlich allein, aber das war ihnen fast recht.

Zu ihrem 15. Geburtstag bekam Lena von ihren Freundinnen und Vater Bölke eine große Party und von Prof. Hesse ihre Scheide und ihre Brüste zurück. Ganze drei Monate fesselte sie das Hormonchaos in ihrem Inneren ans Bett, doch dann stand sie auf und fühlte sich wie der auferstandene Christus. Der Lebensmut, der ihr kam, ließ sie überlegen, was sie nun alles schaffen könnte, nachdem sie dieses Abenteuer einigermaßen heil überstanden hatte.

Dann dachte sie an ihr Versprechen an Gott und während Prof. Hesse von einem riesengroßen Glück und Vater Bölke von einem mächtigen Schutzengel sprachen, wusste Lena, dass sie Gott zu verdanken hatte, was sie nun besaß. Und ihm musste sie zurückzahlen, was er ihr geschenkt hatte.

Darum entschied Lena, dass sie zu Vater Bölke gehen wollte um zu tun, was er tat. Sie besuchte weiter die Schule, während Jonas nach Berlin zurückzog, und mit sehr viel Fleiß holte sie den Stoff nach. Im Heim kümmerte sie sich außerdem um die kleineren Kinder und half den anderen Schulkindern bei ihren Hausaufgaben. Sie wurde eine gute Seele für das Haus, wie Frau Braun feststellte, und je länger ihre Haare wieder wurden, desto mehr glaubte sie daran, dass ihr nichts mehr passieren konnte. Mit jedem Zentimeter verschwand ein wenig von der Lena, die um Amélie trauernd nicht fähig gewesen war, sich dem Institut zu widersetzen. Und als ihre Haare länger waren als je zuvor, schnitt Lena eine Strähne davon ab und begrub sie mit dem Kalender von Amélie und Lucien im Hof hinter dem Heim und flüsterte ihnen zu: »Und jetzt geht, ihr Toten, zu den Spöttern. Und macht ihnen im Knast die Hölle heiß!«

Lena lebte nun gerne im Matthäusheim. Ganz klar war die Göttliche Errettung nicht die Befreiung aus dem Heim gewesen, sondern die Befreiung aus dem Institut. Nachdem sie durch die Hölle gegangen war, konnte Lena sie vom Heim unterscheiden. Es war damals eine Täuschung gewesen und Gott hatte ihr gezeigt, was die wahre Hölle war, um sie auf den rechten Pfad zu bringen.

In Lenas Gegenwart traute sich nun niemand, zu sagen, im Heim sei es schlimm. Doch auch Lena blieb nicht verborgen, dass die Kinder im Heim noch immer genauso litten, wie sie damals gelitten hatte, bevor sie von hier weggeholt wurde.

Im festen Glauben mit Gottes Segen und Unterstützung zu handeln, gab Lena darum ihre ganze verfügbare Kraft in Projekte, die die Heimkinder fördern sollten. Vater Bölke half tatkräftig mit und selbst Frau Braun war mit dabei, als sie mit den Heimkindern durch die Stadt zogen, um auf sich aufmerksam zu machen.

Fünf Jahre lang lebte Lena im und für das Heim. Fünf Jahre lang verbannte sie jeden anderen Traum aus ihren Gedanken und leistete ihre Schuld bei Gott ab. Sie war zufrieden mit ihrem Leben bis ihr in der Nacht vor ihrem zwanzigsten Geburtstag ein Engel im Traum erschien.

Und der Engel sprach zu Lena: »Hast du keine Träume?«
»Ich träume doch jetzt«, antwortete Lena.
»Aber nur von mir«, entgegnete der Engel. »Wer bist du?«
»Wer bin ich?«, erwiderte Lena. »Du weißt, wer ich bin. Ich bin Lena.«
»Aber wer ist Lena? Wer bist du wirklich?«
»Ich bin Lena. Und Lena bin ich. Was meinst du?«
»Ich meine, dass du deine Träume vergessen hast. Der Teil von dir, der dich wirklich ausmacht.«
»Welche Träume? Was macht mich aus?«
»Du gabst Lisa eine Tasche. Lisa hat sie für dich verwahrt und sie hier hergebracht. Aber du hast sie verschlossen gelassen und in ihr deine Träume begraben. Öffne die Tasche, Lena. Öffne die Tasche und finde deine Träume wieder.«
»Welche Tasche?«, fragte Lena den Engel, doch der drehte sich um und entschwebte in gleißendem Licht.

Dann wachte Lena auf. Sie setzte sich hin. Dann ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Draußen fuhr ein Auto vor. Lenas Blick fiel auf ihre alte Tasche. Dann klopfte jemand an ihrer Tür und Lena begriff. Sie stand langsam auf und ging wie in Trance zur Tür. Eine strahlende Sarah quasselte auf Lena ein, doch sie hörte nicht zu. Der Flur war gesäumt mit Kindern. Alle hatten sich versammelt. Alle standen da, um Lena zu verabschieden. Alle hatten gewusst, dass sie heute gehen würde. Alle außer Lena.

Wie im Rausch schritt sie durch das endlose Spalier, das die Kinder bildeten und kam irgendwann zur Treppe. Unten stand Jonas und lächelte sie an.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagte sein Mund, doch Lena hörte seine Stimme nicht. Sie hörte nur ihr Blut rauschen, als sie bedächtig die Treppe hinunterschritt. Vater Bölke und Frau Braun standen an der Tür. Draußen hupte ein Auto und Vater Bölke öffnete die Tür. Durch den sich bildenden Tränenschleier erkannte Lena das Auto: Ein weißer Mercedes Cabriolet.
»Ich hab sie gefunden«, flüsterte Jonas. »In Frankfurt.«
Und Lena sah ihm in die Augen und begriff: Er hatte ihre Augenfarbe.
Und dann sah Lena in das Auto.

Und dort saß Hanna.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt