IV

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Am nächsten Morgen erwachte Lena alleine. Das war an sich nicht ungewöhnlich, denn Amélie stand immer etwas früher auf, um nicht von den Kittelmenschen in einem anderen Bett erwischt zu werden, doch Lena spürte, dass heute etwas nicht wie sonst war.

Jonas gähnte ausgiebig und staunte wie jeden Morgen über seine Brüste, die wie er meinte, wieder ein Stückchen gewachsen waren. Anders als Amélie, die seit der OP mit sich nicht mehr ins Reine kam, verstand Jonas das Ganze mehr als eine Art Spiel, bei dem der Tausch nur temporär war und er war inzwischen fest davon überzeugt, wenn er ganz brav mitspielte, würde er am Ende der ganzen Prozedur seinen Penis auch wiederbekommen. Und dann wäre sowieso alles gut.

Beim Frühstück fiel dann auf, was anders war: Amélie und Lucien erschienen nicht. Weder zum Frühstück noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt. Als Lena und Jonas nach dem Mittagessen einen Abstecher zu den beiden ins Zimmer machen wollten, um nachzusehen, fanden sie die Betten abgezogen und leer. In Luciens Nachtschränkchen fanden sie noch den Kalender, den Lisa für die beiden gebastelt hatte.
Jonas schlug vor, den Kalender mitzunehmen, damit er den Kittelmenschen nicht in die Hände fiel und er versteckte ihn bei dem anderen Kalender in Lenas Nachtschränkchen.

Später beim Labordienst waren alle angespannt und Lena wurde streng untersagt, einige Räume zu betreten, die sie noch nie betreten hatte. Irgendwann während ihrer Schicht hörte Lena dann jemanden auf dem Gang vor dem Labor lauthals herumfluchen und schimpfen. Nachdem wohl auch einige Gegenstände durch die Gegend geflogen waren, entfernten sich Schritte und nahmen das Fluchen mit sich.

Keiner im Labor sagte mehr ein Wort. Selbst die Maschinen, die sonst rauschten und rasselten, machten weniger Geräusche als sonst, so schien es Lena. Bald darauf kamen zwei Paar Schritte näher. Lena hörte Türen schlagen und schließlich schrie eine Frau laut herum und fluchte. Dann war es wieder still.

Am nächsten Tag tauchten Amélie und Lucien auch nicht auf. Es war ein regnerischer Mittwochmorgen im Dezember. Eigentlich hatte Lena sich seit sie die Kalender hatten auf Weihnachten gefreut, doch ihren imaginären Adventskalender ignorierte sie heute.
Doch Lena traute sich auch nicht, die Kittelmenschen zu fragen, was mit ihren Freunden passiert war. Die hätten es zwar sicherlich gewusst, aber Neugierde war im I.R.R.T keine willkommene Eigenschaft.

Nach der täglichen Sporteinheit gingen Lena und Jonas dieses Mal zu zweit zu Lisa und ihrem Vater, um beim Kistentragen zu helfen. Lisa fiel das Fehlen der anderen Beiden natürlich sofort auf und Jonas musste ihr fünfmal erklären, dass sie wirklich nichts darüber wussten, was mit Amélie und Lucien passiert war.

Lena hing derweil ihren Gedanken nach und trug wie immer die Kisten in den Schuppen. Was konnte mit Amélie passiert sein? Mussten sie nochmal operiert werden? Hatte man sie doch erwischt und wurden sie deshalb in einen anderen Teil des Instituts gesperrt?
Ganz in Gedanken versunken merkte Lena nicht, dass ihr in der Schuppentür jemand entgegenkam. Sie reagierte erst, als sie das Scheppern der Kiste auf dem Boden und das Geschimpfe des Wäschereimeisters hörte.

Hastig entschuldigte sie sich und begann, die aus der aufgeplatzten Kiste gefallenen Kleidungsstücke aufzusammeln. Der Mann schimpfte und fluchte vor sich hin und Lena fürchtete schon, er wolle sie schlagen, als Lisa plötzlich neben ihr hockte. Das ältere Mädchen warf Lena ein kurzes, aufmunterndes Lächeln zu und half ihr dann, die Kiste zuzuhalten, während sie sie hineintrugen. Drinnen besahen sich ein Kittelmann und der Wäscher den Schaden an der Holzkiste und der Kittelmann sagte:
»Das ist kein Problem. Das haben wir bis übermorgen in der Werkstatt repariert.«

Während Lena erleichtert aufatmete, wurde Jonas plötzlich ganz unruhig. Er wollte etwas sagen und nachdem alle im Raum das spürten, wurde er von dem Kittelmann aufgefordert zu sprechen.
»Können wir vielleicht die Kiste reparieren? Ich kann das. Ich hab sowas schon oft gemacht.« ›Und ich würde das unheimlich gerne mal wieder tun‹, ergänzte Lena Jonas Rede in ihren Gedanken. Sie sahen sich in die Augen, während sie das Urteil des Kittelmannes abwarteten. Lena hatte sowas zwar noch nie gemacht, aber wenn sie das durften, dann durften sie in die Werkstatt und das würde bedeutende Freiheiten mit sich bringen.

Der Kittelmann entschied, dass er das nicht entscheiden könne und versprach, die Bitte seinen Vorgesetzten vorzutragen. Das war kein Nein und Jonas nahm es bereits als ein Ja. Die ganze Schicht hindurch verschwand das Grinsen nicht mehr von seinem Gesicht.

Beim Abendessen tauchte dann der Motorradmann auf, der Jonas fragte, warum er unbedingt diese Kiste reparieren wollte. Natürlich versuchte Jonas genau die Argumente zu bringen, die die Kittelmenschen wahrscheinlich gerne hören wollten, doch Lena sah dem Motorradmann an, dass die Entscheidung bereits getroffen war: Sie würden diese Kiste reparieren.

Jonas freute sich unbändig und schien Amélie und Lucien schon beinahe vergessen zu haben. Den ganzen Abend lang machte er Pläne, was er mit der Kiste alles machen wollte. Und dabei schien ihn nicht zu stören, dass Lena nicht mal mit einem halben Ohr zuhörte.

Lena war vollkommen in Gedanken über Amélie versunken. Die Sorge in ihr wuchs mit jeder Minute und obendrein ließ sie die Geschichte mit der Kiste wieder misstrauisch werden. Klar durften sie schon viel hier im Institut – im Verhältnis zu den anderen jedenfalls. Und in die Werkstatt zu dürfen war etwas großes – auch wenn niemand so genau wusste, was da nun eigentlich wirklich drin war. Aber gerade drum musste in dieser Werkstatt irgendetwas unglaublich Tolles sein, wenn keiner jemals da rein durfte.

Entsprechend misstrauisch wurde Lena, denn die ganze Situation erinnerte sie an den Tag, als Amélie und Lucien erlaubt wurde, bei Lena und Jonas zu übernachten. Es schien Lena, als sollten sie schon wieder irgendwie beruhigt und abgelenkt werden. Und da ergab sich natürlich sofort die Frage, worüber sie nicht nachdenken sollten.

Die Antwort auf diese Frage lag auch auf der Hand, aber darüber wollte Lena lieber nicht nachdenken, denn es würde bedeuten, dass Amélie und Lucien etwas ernsthaftes zugestoßen wäre. Lieber hoffte Lena noch einige weitere Tage, dass sie ihre Freundin bald wieder in die Arme schließen konnte.

Irgendwie schaffte Lena es spät abends dann doch, ihre Gedanken zur Ruhe zu bringen und lauschte Jonas vor dem Einschlafen, wie er überlegte, welche Arten von Nägeln es wohl in der Werkstatt gäbe und wie groß die Auswahl an Hämmern war, mit denen sie arbeiten durften.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt