VIII

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Die folgende Nacht nutzte Lena, um einige andere in ihre Pläne einzuweihen und einzubeziehen. Von Vorteil war dabei, dass die meisten mitbekommen hatten, wie am anderen Tag nach der Kittelfrau Melanie gerufen worden war. Lena packte die Kalender ein und gab den letzten Rest Farbe an Nadja weiter. Dann gab sie ihr den Schlüssel und letzte Anweisungen.
Den Rest der Nacht verbrachte sie in der Werkstatt.

Am nächsten Morgen begann dann der Aufstand der Ausgegrenzten und Unterdrückten. Lena bekam es nur am Rande mit, doch auch von der Werkstatt aus sah sie, dass die Kittelmenschen heute nicht gut drauf waren. Kurz erschrak Lena, als sie Mia und Lukas in Kitteln über den Hof laufen sah, aber dann fasste sie sich und wartete weiter.

Mittlerweile mussten sich die anderen wieder beruhigt haben. Der Plan, den Gott ihr zugeflüstert hatte, beinhaltete, dass die Kittelmenschen sich in einer trügerischen Sicherheit wähnen sollten. Sie sollten glauben, sie hätten den Widerstand eingedämmt. Dann kam der Wäschereitransporter und die Flucht begann.


Jonas kam kreidebleich und von zwei Kittelmenschen begleitet aus dem Institut. Sie blieben einige Minuten neben dem Wagen stehen, um zu kontrollieren, dass nichts geschah, bevor sie eilig weggerufen wurden. Auch der Hausmeister lief über den Hof.
Das war das Zeichen! Nadja hatte angefangen, die Buchstaben ›NIE‹ auf die Wände im Institut zu schmieren. Jetzt mussten sie handeln, bevor der Hausmeister wiederkam.

Langsam kroch Lena aus ihrem Versteck und als sie sicher war, dass der Kittelmann und der Wäscher im Wäscheschuppen waren, lief sie schnell zum Transporter. Das kleine Mädchen von damals - Valerie - stand wie verabredet an der Portaltür des Instituts und wartete. Als sie Lena erblickte, richtete sie sich sofort auf und starrte sie an. Selbst über die Entfernung konnte Lena ihre Anspannung spüren.
Dann machte Lena dreimal das Handzeichen und Valerie nickte. Dann lief sie ins Haus und ließ die Tür zufallen.
Lena lief derweil zurück in die Werkstatt und holte den Karton mit dem Tablet und ein paar Klamotten für Jonas.

Wieder wartete Lena an der Werkstatttür, bis das Portal des Instituts wieder aufging und ein Junge, der blau trug, laut schrie: »Telefon für Adrian! Telefon für Adrian! Ein Notfall!«
In ständiger Wiederholung diese Sätze schreiend rannte er die Treppe hinunter und zum Wäscheschuppen.
Wie erwartet kam Adrian ihm entgegen und gemeinsam verschwanden sie wieder im Institut.

Das war Lenas Moment. Wieder rannte sie zum Wäschereiwagen, wo sie diesmal den Karton selbst in einer Kiste verstaute und dann mit den Klamotten in den Schuppen lief. Dort warteten wie verabredet Jonas und Lisa mit ihrem Vater mit zwei letzten Kisten. Lena gab Jonas die Kleidung, die er sich anzog. Dann kletterten Lena und Jonas in die Kisten und wurden von Lisa und ihrem Vater gut verpackt. Was Jonas ausgezogen hatte, landete oben auf dem Wäschehaufen und dann wurden die beiden auf den Transporter getragen.

Bang waren die Momente, in denen sie still auf der Ladefläche lagen, nichts hörten und nichts sahen und nur den Geruch von getragenen Klamotten in der Nase hatten. Dann setzte sich der Transporter in Bewegung und rollte vor das Tor. Der Hausmeister und die Wachleute kamen keuchend angelaufen und während die Kittelmenschen auf die Ladefläche kamen, entschuldigte sich der Hausmeister beim Wäscher. »Verzeihen Sie. Heute ist irgendwie der Wurm drin.«

Dann schloss er das Tor auf und die Kittelmenschen verließen die Ladefläche wieder. Die Ladung wurde gesichert und der Transporter rollte vom Hof. Kurz bevor Lisas Vater beschleunigte, hörten sie noch den Motorradmann brüllen: »Habt ihr denn auch in den Kisten nachgesehen? Habt ihr die Kisten alle aufgemacht

Lisas Vater beschleunigte, doch es dauerte nicht lange, bis sich von hinten Autos näherten. Lisa schloss die Augen und betete. ›Bitte, lieber Gott, bitte lass sie uns nicht einholen. Bitte mach, dass wir heute hier rauskommen!‹

Lang waren die Minuten, die folgten. Soweit Lena das beurteilen konnte, bogen sie oft ab. Außerdem rasten sie wie die Irren und das auf teilweise nicht befestigten Straßen.
Nach dem dritten heftigeren Holpern fing Lena an zu beten.

Sie versprach Gott, alles zu tun, was er von ihr wollte, wenn er sie nur heil aus dieser Situation brächte. Sie versprach, ans Licht zu bringen, dass in diesem Institut Menschen Gott spielen wollten. Sie versprach, sich ihr Leben lang für die Kirche und für Waisenkinder einzusetzen. Sie versprach auch, sich an den Kittelmenschen zu rächen. Ganz besonders am Motorradmann und seiner Frau. Doch diesen Gedanken verwarf sie sofort wieder. Der Motorradmann und die Frau hatten von Gefängnis gesprochen. Also würde sie die Gerechtigkeit schon einholen.

Irgendwann wusste Lena nicht mehr, was sie noch beten sollte und so schloss sie die Augen und wartete. Wäre sie nicht in Wäsche eingepackt, dann hätte sie sich wahrscheinlich längst verletzt, doch so wie sie war, spürte sie, wie ihr die Luft zum Atmen knapp wurde.
Vorsichtig grub sie sich mit den Händen einen Weg aus der Wäsche. Es dauerte nicht lange, da stieß sie an Holz und kurz darauf brachte ein Kanal zwischen einer Lücke zwischen zwei Kistenlatten und ihrer Nase die frische Waldluft von draußen in die Lungen.

Plötzlich rumpelte es erneut und Lena meinte zu erkennen, dass sie scharf rechts abbogen. Plötzlich ging es wieder auf geteerte Straße und dann ganz schnell um ganz viele Kurven. Dann raste der Transporter auf eine gerade Straße, wo sie erst heftig angehupt wurden, bevor sie mitten im großen Verkehr dahinflossen.

Die Minuten vergingen und irgendwann fuhren sie wieder ab von der großen Straße. Das Licht wechselte, sie schienen durch einen Tunnel zu fahren. Dann waren sie wieder am Tageslicht und fuhren in gemächlichem Tempo eine ruhige Straße entlang.

Noch gefühlte tausend Mal bogen sie ab, bevor sie schließlich stehenblieben. Autotüren knallten, dann wurde Lenas Kiste geöffnet und Lisa half ihr heraus. Sie standen vor dem Matthäusheim, umgeben von Polizisten und in der Tür des Heims standen Frau Braun und Vater Bölke.
»Schnell rein da«, kommandierte Lisa und schob Lena zur Tür, wo sie von Vater Bölke in den Arm genommen wurde.

»Bei Gott, Lisa, es tut mir Leid. Seit ich weiß, was sie dort getan haben, bete ich, dass ihr dort wieder herauskommt. Ich hätte doch Einspruch erhoben, wenn ich geahnt hätte, wer die Eltern wirklich sind.«
Lena sah Lisa an. »Hast du es ihm erzählt?«, fragte sie.
»Natürlich.«
»Wie?«
»Es gibt nur ein Matthäusheim in Trier, Lena«, sagte sie lächelnd.

Lena nickte. Dann sah sie zu Vater Bölke und Tränen füllten ihre Augen. »Vater...«, begann sie. »Vater, Gott war bei mir. Gott war da. Die ganze Zeit. Und als ich das verstanden hatte, hat er uns herausgeführt.«
Auch in den Augen des Geistlichen bildeten sich zwei Tränen. In jedem Winkel eine. »Das ist gut, Lena. Das ist sehr gut!«
»Und Gott hat mit mir gesprochen. Er hat mir gesagt, was ich tun soll.«
»Wirklich, Lena?«
»Ja. Aber sie werden nicht erraten, mit wessen Stimme er gesprochen hat.«
»Mit der eines Vaters?«, fragte er.
»Mit der meines Vaters. Mit ihrer Stimme, Vater«, antwortete sie und warf sich schluchzend in die Arme des Mannes, der ihr im Rückblick wirklich einem Vater am nächsten gewesen war.

Einige Zeit war es ruhig. Dann quietschten draußen Reifen und ein Gebrüll erhob sich. Und es erstarb mit einem Schuss.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt