IV

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Dies ist das erste der im Vorwort erwähnten Kapitel mit kritischem Inhalt. Ich möchte darauf hinweisen, dass das hier beschriebene Verhalten strafbar ist. Wer sich nicht imstande sieht, diesen Abschnitt zu lesen, kann die ersten sechs Absätze überspringen.

Lena erwachte durch eine Hand, die an ihrem Arm rüttelte. Sie blinzelte leicht und erblickte ein Augenpaar, das keine zwanzig Zentimeter vor ihrem Gesicht schwebte.

»Warum bist du nicht im Bett?«, herrschte eine Frauenstimme sie an. Fahles Mondlicht schien ins Zimmer und erleuchtete einen Streifen des Gesichts dieser Frau, deren Augen zusammengekniffen waren. »Ich bin hier, um deine Klamotten mitzunehmen.«

Verwirrt sah Lena sich um. Sie erkannte nicht viel, doch sie war eindeutig nicht im Heim. Hanna wäre sofort aufgewacht, wenn jemand so laut gesprochen hätte. Außerdem war das Bett, auf das Lena von der Frau gerade gestoßen wurde, wesentlich größer als die Betten im Heim. Wo war sie? War das ein Albtraum?

»Komm schon Mädchen! Zieh dich aus, damit ich deine Sachen mitnehmen kann!«, schrie die Frau beinahe.
Lena rührte sich nicht. Langsam kamen die Erinnerungen an gestern wieder. An Lukas und Mia und an den Motorradmann und an das Institut.

Lena spürte, wie sie gepackt wurde und eine grobe Hand begann, ihr den Stoff vom Körper zu reißen. Erst obenherum, dann untenherum zog die Frau Lena in Windeseile aus und knallte ihr Namensschild auf das Nachtschränkchen. Dann holte sie aus einem Wagen auf dem Gang einen Satz frischer Klamotten und knallte ihn obendrauf, bevor sie den Raum wieder verließ.

Lena stand nun splitterfasernackt in diesem fremden Raum und fühlte sich, als wäre sie verprügelt worden. Genaugenommen war das Gefühl schlimmer als verprügelt zu werden, aber anders hätte Lena es nicht beschreiben können. Nach einer halben Ewigkeit setzte sie sich wieder in Bewegung und tastete unter der Bettdecke ihres Bettes nach ihrem Pyjama.

Selbst als sie sich angezogen unter der Decke eingerollt hatte, fühlte Lena sich noch kalt und einsam in diesem Raum, doch seltsamerweise konnte sie nicht weinen. Das Bett roch beißend nach irgendeinem unangenehmen Waschmittel, was es Lena auch unmöglich machte, wieder einzuschlafen, also lag sie da und dachte nach. Wie angenehm es wäre, wenn jemand in diesem anderen Bett läge, dachte sie. Es müsste ja nicht mal Hanna oder Sarah sein. Selbst wenn es der Motorradmann wäre, wäre das besser, als hier so alleine zu sein.

Hanna! Der Gedanke an ihre beste Freundin brachte einen Funken Hoffnung in ihr Herz. Etwa so als ob jemand ein Streichholz im Weltall entzündete erschien und erlosch der Funke und Lena war wieder allein. Sie war allein. Hanna war nicht hier. Und im Grunde war es ganz gut, dass Hanna nicht hier war. Hier war es schrecklich.

Erst als Lena erwachte, stellte sie fest, dass sie wohl doch eingeschlafen sein musste. Es gab zwar keine Uhr im Zimmer, aber Lena wusste trotzdem, dass der Unterricht bereits angefangen hatte. Im Gegensatz zur Nacht war sie sich ihrer Situation heute Morgen sehr bewusst und sie wäre wohl auch schleunigst aus dem Bett gesprungen, um nicht wieder von dieser Frau ausgezogen zu werden, doch sie sank vor Schmerzen stöhnend auf die Matratze zurück. Ihr Kopf pochte und in ihrem Bauch war eine gähnende Leere. Klar gab es auch im Heim Tage, an denen das Essen knapp wurde, weil das Geld nicht mehr reichte und an denen man hungern musste, doch das war nichts gegen den Hunger, den Lena jetzt gerade empfand.

Unter geringstmöglicher Bewegung versuchte Lena zu ermitteln, wann sie das letzte Mal etwas gegessen hatte. Als sie ihren Magen das nächste Mal knurren hörte, war sie sich schließlich sicher, dass das gestrige Frühstück ihre letzte Mahlzeit gewesen war. Vor über 24 Stunden.

Vorsichtig und ohne hektische Bewegungen krabbelte Lena aus dem Bett und sah sich um. Das Bett gegenüber war immer noch leer, doch vor der Tür – träumte sie? Vor der Tür lag ein Tablett auf dem Boden und darauf stand das reichhaltigste Frühstück, das Lena je gesehen hatte. Brot, Butter, Käse, Eier, Speck und Schinken zum Sattessen und eine Karaffe mit einer seltsamen neongrünlichen Flüssigkeit.

Noch im Pyjama stürzte sich Lena auf das Frühstück und aß es direkt auf dem Boden. Da das grünliche Wasser das Einzige war, was sie zu Trinken bekam, probierte sie auch das und es schmeckte gar nicht mal schlecht.

Als Lena alles bis auf den letzten Krümel aufgegessen hatte, zog sie sich an und wartete dann, dass etwas passierte. Erst saß sie brav auf ihrem gemachten Bett, dann stand sie am Fenster und schließlich lief sie in ihrem Zimmer auf und ab und malte sich die unterschiedlichsten Szenarien aus, was passieren würde, wenn gleich jemand hereinkäme.

Irgendwann am frühen Nachmittag ertönten tatsächlich Schritte auf dem Gang und kamen vor Lenas Tür zum Halten. Das Herz klopfte Lena bis zum Hals und sie zupfte ihre Weste zurecht, während sie vor ihrem Bett stand und wartete.

Ein Schlüssel wurde ins Schloss gesteckt. Dann wurde er herumgedreht. Ein leises Knarren ertönte, als der Türknauf sich drehte und dann schwang die Tür unter leichtem Rattern ganz weit auf. Lenas Herzklopfen wurde unerträglich laut und stark, als zwei Personen den Raum betraten: Der Motorradmann und ein Junge, der etwas älter war als Lena.

Lena sah die beiden ängstlich an, während der Motorradmann dem Jungen das Gleiche erklärte, was er gestern auch Lena erklärt hatte. Dann drehte er sich zu Lena um und fuhr fort: »Für euch beide gilt: Ihr werdet hier auf dem Zimmer essen. Lena weiß schon, wie das funktioniert. Eure Pyjamas bekommt ihr mit dem Abendessen. Und in einer halben Stunde kommt jemand, der euch erklärt, was ihr die nächsten Tage machen werdet.«

Dann drehte der Motorradmann sich um und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Die Tür fiel zu und wurde kurz darauf abgeschlossen. Nun standen Lena und der Junge sich gegenüber und musterten sich gegenseitig.

»Wie heißt du?«, fragte er nach einer gefühlten Ewigkeit und an seiner Stimme erkannte Lena, dass er genauso viel Angst hatte wie sie.
»Lena«, antwortete sie leise. »Und du?«
»Jonas«, erwiderte er und sah zu Boden.
»Hallo Jonas«, sagte Lena, nur um irgendetwas zu sagen und sah an dem Jungen vorbei.

»Und wie alt bist du?«, fragte er nach einer Weile.
»Zwölf«, antwortete sie prompt.
Jonas nickte. »Ich bin dreizehn. Aber Jonathan ist acht. Warum muss der auch hier sein?«, fragte er.
Lena konnte nur vermuten, dass Jonathan mit ihm zusammen untersucht worden war, daher erzählte sie Jonas von dem siebenjährigen Mädchen, das sie gestern gesehen hatte.

Dann fragte sie: »Und was ist mit deiner Familie? Wissen die, dass du hier bist?«
»Ich hab keine Familie«, antwortete Jonas unwirsch. »Meine Familie sind meine Jungs im Heim.«
»Du lebst auch im Heim?«, fragte Lena plötzlich sehr aufgeregt.
»Ja. Im Bartholomäusheim in Kreuzberg.«
»Kreuzberg? Wo liegt denn das?«
»In Berlin natürlich. Berlin Kreuzberg. Warst du da noch nie?«
»Ne. Ich komme aus Trier«, erwiderte Lena. »Ich weiß von Berlin nur, dass es die Hauptstadt von Deutschland ist und ungefähr eine Million Kilometer weit weg liegt.«

»Trier. Das ist ja ewig weit weg. Fast Frankreich. Wieso bist du denn hier?«
»Was meinst du?«
»Naja, wieso die dich hierher gebracht haben. Ihr müsst ja Stunden mit dem Auto unterwegs gewesen sein.«
»Und warum wir und nicht ihr?«, fragte Lena und nahm Defensivhaltung ein. Dieser Junge sollte nicht so von oben herab mit ihr reden. Als Heimkind lernte man zwangsläufig, sich so etwas nicht gefallen zu lassen.
»Weil wir nicht durch halb Deutschland gefahren sind«, erklärte er hochnäsig.

Bevor Lena darauf antworten konnte, bewegte sich die Tür und eine junge Frau mit kurzen, roten Haaren und einem weißen Kittel stand in der Tür.
»Kommt mit!«, befahl sie barsch und winkte Lena und Jonas aus dem Zimmer heraus, die wieder in Schweigen verfallen waren.

Auch Jonas schien etwas unwohl zu sein, als die rothaarige Frau voran durch die Gänge schritt und alle fünf Schritte überprüfte, ob Lena und Jonas ihr noch folgten. Es ging durch ein Labyrinth aus Treppen, Gängen und Aufzügen, bis die drei schließlich vor einer Tür stehen blieben. Anders als in den meisten anderen Gängen des Instituts waren hier die Türen farbig. Der Korridor war so weiß wie alles andere, doch die Türen waren in vier verschiedenen Farben gestrichen: rot, gelb, grün und blau.

Die rothaarige Frau klopfte und öffnete die rote Tür, vor der sie standen und auf der in weiß die Ziffern »04.2« zu erkennen waren.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt