IV

3 1 0
                                    

»Lass uns schauen, ob von dir auch irgendwas hier drinnen ist«, schlug Jonas vor, als sie sich voneinander lösten.
»Ich weiß nicht. Ich hatte nichts bei mir, als die mich entführt haben. Das war alles bei meinen neuen Adoptiveltern im Auto.«
Jonas schwieg einen Moment, dann sagte er vorsichtig: »Ich war mir sicher, dass Lukas Knopf in meinem Bett in Kreuzberg liegt. Vielleicht ist auch was von dir hier? Was hast du denn damals eingepackt?«
»Ich hatte zwei Taschen. Eine große Schwarze für meine Klamotten und meine Bilder und Stifte und meine Schultasche.«
»Wie sah sie denn aus? Also die Schultasche?«, fragte Jonas, der sich bereits in das Kistenchaos hinter Lenas Höhle geschmissen hatte.
»Lila. Lila mit ein paar bunten Aufnähern drauf.«

Einige Sekunden kam keine Antwort. Dann tauchte Jonas wieder auf und hielt eine lila Tasche hoch. »So wie diese hier?«
Lena fehlten die Worte. Jonas hielt tatsächlich ihre Schultasche in der Hand.
»Und das hier sind dann wohl deine anderen Sachen«, meinte er triumphierend und hob eine schwarze, etwas größere Tasche hoch.
Immer noch sprachlos starrte Lena nur darauf. Sie spürte, wie sich Tränen den Weg auf ihre Wangen bahnen wollten und sie wusste nicht warum. Kurz darauf war Jonas bei ihr und umarmte sie, als Lena zum ersten Mal in ihrem Leben Freudentränen weinte.

Lena spürte tief in sich drin, wie ein Knoten in ihr aufging. Es war keine Explosion, kein plötzliches Ereignis, keine überwältigende Freude. Es war langsam, bedächtig, kontinuierlich, ein langanhaltendes Gefühl, etwas zu schaffen. Als hätte Lena seit zwei Jahren einen Knoten in ihrem Schnürsenkel lösen wollen und jetzt ging er auf. Aber langsam. Sie musste immer noch die Schnürsenkel sortieren und auseinanderziehen aber es stand nichts mehr dem Erfolg im Weg und das wusste sie jetzt.
Sie hatte ihre Schultasche gefunden. Und mit der Schultasche würde sie von hier abhauen. Der Knoten in ihrer Brust, von dem sie überhaupt nicht gewusst hatte, dass er existierte, löste sich langsam und Jonas, der sie umarmte machte diesen Moment zum Schönsten, an den sich Lena in ihrem Leben erinnern konnte.

Vorsichtig öffnete Lena die große Tasche. Darin war alles wie vor über zwei Jahren. Wie als Lena die Tasche gepackt hatte. Ihre Klamotten unten und darauf die Bilder, die sie gemalt hatte und dazwischen ihre Stifte.
Bedächtig hob Lena eines der Bilder heraus. Sie hatte vergessen, wie gerne sie gemalt hatte. Und sie hatte vergessen, wie das Auto ausgesehen hatte, von dem sie so oft geträumt hatte. Mit einem Schlag hatte Lena das Gefühl, vergessen zu haben, wer sie eigentlich war. Und im gleichen Moment hatte sie die alte Lena wiedergefunden.
Plötzlich war Lena erfüllt von einer Lebensfreude, die sie nicht einordnen konnte und im gleichen Moment kam ihr eine Erkenntnis, die in ihr ein Gefühl zwischen Zorn und Hass auslöste.

»Was ist das für ein Auto?«, fragte Jonas und deutete auf das Bild in ihrer Hand.
»Von dem Auto hab ich früher immer geträumt. Ich hab geglaubt, dass eine Frau in einem weißen Mercedes-Cabrio kommt und mich adoptiert. In all meinen Träumen war sie blond und trug eine Brille und ihr Mann hatte meine Augenfarbe.«
»Ein schöner Traum«, fand Jonas lächelnd.
»Nicht nur ein Traum«, widersprach Lena heftig. »Ich weiß es ganz sicher. Dieses Auto gibt es und die Frau auch. Und eines Tages werde ich ihr begegnen. Auch wenn sie mich nicht aus dem Heim abholen wird.«

Jonas lächelte weiter. »Das klingt schön. Ich hab so jemanden nicht.«
»Ich glaube, ich male heute Nacht auch ein Auto auf eine Wand«, beschloss Lena.
»Hast du denn auch weiße Farbe?«
»Auf weißer Wand? Nein, ich male ein rotes Auto.«
»Find ich gut. Aber die Taschen lassen wir hier, ja?«
»Klar. Solange bis wir einen Weg gefunden haben, sie und uns hier herauszuschaffen.«

Jonas verließ die kleine Höhle und wollte schon durch die schmalen Gänge zurück in den freigeräumten Teil der Werkstatt gehen, doch Lena blieb noch kurz mit Blick zum Kreuz stehen.
In einem Stoßgebet dankte sie Gott für den Fund. Auch wenn das bedeutete, dass Mia und Lukas Betrüger waren, die mit dem Institut gemeinsame Sache gemacht hatten. Die Wahrheit diesbezüglich zu kennen war Lena mehr wert als die Hoffnung, eines Tages doch bei Mia und Lukas leben zu können.
Einem spontanen Gedanken folgend schickte Lena auch ein Stoßgebet hinterher, in dem sie darum bat, dass Hanna und die anderen aus ihrem alten Zimmer aus dem Heim herauskommen sollten. Aber auf bessere Weise als sie.
Einen Moment verharrte sie noch und dachte an Frau Braun, an Vater Bölke und plötzlich kam ihr ein Gedanke. Es war als ob Gott zu ihr spräche. So musste das gewesen sein für Jona oder die anderen Propheten. Sie hörte Vater Bölkes Stimme, der ihnen einmal eine Geschichte erzählt hatte. Eine Geschichte von einer List. Eine Geschichte, die nicht in der Bibel stand. Damals hatte Lena sie nicht verstanden, doch nun begriff sie.

›In einem Land, das weit entfernt liegt, gab es vor langer Zeit mal einen Krieg‹, hatte Vater Bölke erzählt. ›Es war ein langer Krieg mit vielen toten Soldaten und keine Partei konnte die Überhand gewinnen. Die eine Seite hatte eine Stadt belagert, doch die Bewohner der Stadt konnten ausharren, denn sie hatten genug Nachschub über einen Zugang, den die Gegner nicht kannten. Jeden Tag starben auf beiden Seiten Soldaten bei Versuchen der Angreifer, die Stadt zu erstürmen.
Schließlich ersann der Heerführer der Angreifer eine List. Er wusste, dass er den Krieg nicht so gewinnen konnte, wie er ihn im Moment führte. Also musste er die Strategie wechseln. Er wusste, dass die Menschen in der Stadt Pferde verehrten, also ließ er von seinen Handwerkern ein großes Pferd aus Holz bauen, in dem mehrere seiner Soldaten Platz fanden.
Dann ließ er das Pferd eines Morgens vor das Tor der belagerten Stadt schieben und zog seine Truppen so weit zurück, dass die Bewohner der Stadt glauben mussten, er habe aufgegeben. Die List gelang und die Bewohner der Stadt glaubten, das Pferd sei ein Friedensangebot. Sie zogen es in die Stadt und stellten es dort für alle Bewohner zugänglich auf.
In der nächsten Nacht kletterten nun die feindlichen Soldaten aus dem Holzpferd und töteten den König der Stadt. Dann öffneten sie den anderen die Stadttore und die restliche Eroberung der Stadt war ein Kinderspiel.‹

Sie mussten nur ein Holzpferd bauen.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt