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Am nächsten Tag weihten Lena und Jonas Lisa in ihren Plan ein, wie die Flucht gelingen sollte. Spontan beschloss Lisa, dass ein Test nicht schaden könne und meinte, dass sie jetzt schon etwas in der Wäsche verstecken sollten. Nach kurzer Diskussion fiel die Wahl auf Lenas Schulrucksack, den Jonas schnell aus der Werkstatt holte. Unbemerkt von den Erwachsenen schaffte Jonas den Rucksack auf die Ladefläche, wo er ihn in einer bereits verstauten Kiste versteckte.

Mit bangen Blicken verfolgten Lena und Jonas später von der Werkstatt aus, wie der Wäschereitransporter den Hof verließ. Die Kittelmenschen, die den Wagen untersuchten, schritten über die Ladefläche, verschoben Kisten und klopften auf einige Deckel, doch sie öffneten keinen. Schließlich schickten sie den Transporter weiter, ohne dass sie die Schultasche gefunden hatten.
Ihr Plan konnte wirklich aufgehen!

Die nächsten zwei Tage waren die schönsten, die Lena je im Institut erlebt hatte. Zu keiner Zeit hatte sie die Last gespürt, die jetzt von ihren Schultern gefallen war. Trotzdem war dieses positive Gefühl für ihre Zukunft beinahe überwältigend. Und es gab ihr die Kraft und die Kreativität, Pläne zu schmieden. Trotz allem stockten die Vorbereitungen aber noch bei dem Problem des Wäschemenschen. Wie bekam man ihn aus dem Wäscheschuppen heraus?

Die Alternative dazu, auf dem Transporter erst in die Kisten zu klettern kam nicht infrage, denn dort konnten sie von allen Seiten beobachtet werden. Aus jedem Fenster des Hauptgebäudes und auch von der Hausmeisterhütte aus hatte man einen perfekten Blick auf die Ladefläche des Transporters. Es hieß also entweder einen ablenken oder alle. Und da war einen wohl doch einfacher – wenn man denn wüsste, wie.

Lisa nahm beim nächsten Mal auch Lenas restliche Sachen mit und auch die paar Dinge, die sie von Jonas in den Kisten fanden, packten sie in einen alten Karton und versteckten ihn in der Wäsche. Die Sachen bekamen sie so also aus dem Institut, es fehlte wirklich nur der Plan, wie sie selbst unbemerkt in die Kisten steigen konnten. Und gerade als Lena glaubte, es wäre nur noch eine Frage der Zeit, kam der nächste Dämpfer.

Am dritten Morgen nachdem sie Lenas Schulsachen aus dem Institut geschmuggelt hatten, wachte Lena früher auf als sonst. Jonas im Bett neben ihr machte seltsame Geräusche und krümmte sich leicht. Dann sprang er auf und klopfte wie wild gegen die Tür. Lena stand auf und versuchte, zu verstehen, was los war.
»Mir ist schlecht«, keuchte Jonas nur und hämmerte weiter wie besessen gegen die Tür, bis er sich krümmte und sich schließlich auf den Zimmerboden erbrach.
Lena war bei Jonas und versuchte, ihm zu helfen, doch sie wusste nichts besseres, als ihm über den Kopf oder den Rücken zu streicheln und beruhigend zuzuflüstern.

Nach einer Ewigkeit kam dann jemand zu ihrem Zimmer und schloss auf. Instinktiv stellte Lena sich vor Jonas, als der Motorradmann hereinkam.
»Was ist denn hier los?«, donnerte der Kittelmann und sah Lena böse an.
Vor Angst traute sich Lena fast nicht zu antworten, aber Jonas brauchte Hilfe.
»Jonas war schlecht«, sagte sie mir fester Stimme.
»Und warum habt ihr nicht Bescheid gesagt?«
»Das haben wir«, widersprach Lena und wunderte sich über ihren Mut.
Im nächsten Moment bereute sie ihren vorlauten Ausbruch, denn der Motorradmann trat einen Schritt auf sie zu, beugte sich zu ihr herunter und hob eine Augenbraue.
»So. Habt ihr das?«, fragte er mit einem gefährlichen Unterton und richtete sich plötzlich wieder auf. »935 mitkommen. Und du bleibst hier, 478, und überlegst nochmal, wie ihr uns bescheid sagen sollt, wenn etwas ist.«

Dann verließen die beiden das Zimmer und der Motorradmann schloss Lena ein. Einen Moment starrte sie auf das Erbrochene, das in der Zimmerecke in Magenflüssigkeit schwamm. Dann ließ sie sämtliche Vernunft fahren und fischte den Schlüssel aus Jonas' Nachtschränkchen. Sie schloss die Tür wieder auf und huschte zum Treppenhaus. Sie schloss auf und hinter sich wieder ab. Kurz horchte sie, doch sie hatte Glück. Keiner war hier.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt