VIII

8 2 0
                                    

Mit jedem Tag schwand nun auch bei Lena die Hoffnung, Amélie noch einmal wiederzusehen. Dafür erklärte Jonas ihr, wie er eine Flucht anstellen wollte: Irgendwie wollte er auf den Wäschereitransporter, um mit der Wäsche in den Ort hinunterzufahren und von dort aus die Polizei verständigen. Oder aber sich von Lisa und ihrem Vater über die Grenze bringen lassen und dann die Polizei verständigen.

»Aber wohin willst du dann? Wieder in ein Waisenhaus? Es geht uns hier doch eigentlich ziemlich gut, oder?«, überlegte Lena dagegen.
»Aber wir sind hier eingesperrt. Ich habe es satt, immer nur diese schrecklichen Backsteinwände von innen zu sehen!«, regte sich Jonas auf.
»Und draußen wirst du andere Backsteinwände von innen sehen. Tag für Tag. Und es wird dir nicht besser gehen als hier. Vor allem können die hier noch die OP rückgängig machen. Draußen kann das bestimmt keiner.«
»Das glaube ich eigentlich nicht. Selbst wenn sie die OP rückgängig machen können, werden sie es nie im Leben tun! Lieber suche ich mir irgendeinen anderen Arzt da draußen, der das machen kann!«
»Das glaube ich aber nicht, dass es so jemanden gibt. Die erzählen doch bestimmt niemandem etwas hiervon«, protestierte Lena.
»Na dann müssen wir halt noch ein paar Unterlagen mitnehmen und hoffen, dass da alles drinsteht, was die Ärzte draußen brauchen.«

Mit der Zeit schaffte Jonas es, die anstehenden Reparaturen abzuarbeiten, sodass sie sich auch auf eigene Projekte einstellen konnten. Pünktlich dafür entdeckte Lena in einem der Schränke hinter dem Kachelofen einige Stoffreste. Nach einiger Zeit und einigen missratenen Stücken hatten sie schließlich einen Rock und zwei Hosen genäht und planten schon, wie man am besten ein Oberteil schneidern konnte, wofür Lena hübschen lila Stoff gefunden hatte, als Jonas abermals einen Reparaturauftrag bekam und Lena sich wieder den alten Schulsachen widmete.

Sie zog also einen Stapel Hefte aus dem nächsten Karton und schlug das oberste auf.
Dort stand in etwas unsauberer Handschrift: ›Der Gefangenenaufstand‹ als Überschrift auf der Seite und darunter etwas kleiner: ›ein neues griechisches Drama in fünf Akten‹.

Nicht ganz sicher, was das bedeuten sollte, blätterte Lena weiter und stieß auf seitenweise Text in dieser komischen griechischen Schrift. Natürlich konnte sie nichts davon lesen, doch sie wurde dennoch auf eine Passage aufmerksam, die in rot geschrieben aus dem Rest herausstach.
Stockend versuchte Lena, die Passage zu entziffern:

›Nekpoi Ite ttpos Eyyelaotais. Kai ayyelete autois tn autoi eotupelizov 'uhas 'iva yiyvwokouoiv ti eoti n aßia tou avbpwttwv‹

Weder vorwärts noch rückwärts noch irgendwie durcheinander gewirbelt ergaben diese Buchstaben einen Sinn. Fast schon verzweifelt stieß Lena die Hefte von sich. Sie konnte einfach kein Griechisch.

Plötzlich stand Jonas hinter ihr und sah neugierig auf die Hefte.
»Der Gefangenenaufstand«, las er und grinste. »Da hast du ja genau unser Heft gefunden. Was ist das?«
»Ein Drama oder so. Ich glaube das ist ein Theaterstück. Aber ich kann das sowieso nicht lesen, also brauchen wir uns damit auch eigentlich keine Mühe zu geben.«
»Schade«, befand Jonas. »Wäre schön, wenn die hier irgendwo eine deutsche Übersetzung davon hätten.«
»Ja, wäre schön«, bestätigte Lena und sah mit leerem Blick auf die Hefte.
»Naja. Kommst du kurz? Ich könnte deine Hilfe gebrauchen«, bat Jonas und gemeinsam liefen sie nach vorne zu dem Tisch, den Jonas reparieren sollte.

Beim Abendessen geriet der Speisesaal unerwartet in Aufruhr.
Während Lena und Jonas seit dem Verschwinden von Amélie und Lucien immer alleine an ihrem Tisch saßen, hatten sich an anderen Tischen Essgemeinschaften gegründet. Und nun wurde während des Abendessens ein Mädchen, das ein rotes Hemd trug, abgeholt, was aber eine ältere Frau in grün nicht zulassen wollte. Es entstand ein großes Handgemenge, das die Kittelmenschen aber gewannen. Am Ende verließen sie mit dem schreienden Mädchen den Speisesaal und die Frau mit dem grünen Hemd saß mit blutender Nase und einem blauen Auge am Tisch und versuchte die Blutung mit ihrer Weste zu stillen.

Unwillkürlich musste Lena an die in rot geschriebenen Zeilen aus dem Heft denken, als sie das rote Blut auf der weißen Weste sah. Auch wenn sie sonst nicht viel mit den anderen Menschen im Institut zu tun hatten, weil sie immer andere Tagespläne bekamen, beschloss Lena, sich mal einen Vormittag zu dieser Frau zu gesellen, um mit ihr über diesen Vorfall zu sprechen.

Gesagt getan und beim nächsten Mittagessen saßen Lena und Jonas mit dieser Frau, die Nadja hieß, am gleichen Tisch. Die anderen am Tisch wunderten sich zwar, doch niemand hatte etwas dagegen, dass Lena und Jonas am Tisch saßen - oder sie teilten ihre Bedenken nicht mit.

Nadja erzählte dagegen ganz frei und offen davon, was sie beobachtet hatte, wenn sie abends durch ihr Fenster in den Wald sah. Sie war fest davon überzeugt, schon mehrfach beobachtet zu haben, wie die Kittelmenschen im Wald Leichen verscharrt hatten. Angefangen hatte es laut Nadja mit den Freunden von Lena und Jonas, also mit Amélie und Lucien. Danach waren noch andere Pärchen verschwunden und alle trugen rote Hemden.

Von manchen am Tisch bekamen Lena und Jonas an dieser Stelle mitleidige Blicke, von andren dagegen eher Misstrauische. Lena, die nicht ganz wusste, wie sie die Blicke einzuordnen hatte, beschloss, sie zu ignorieren. Ohnehin hatte sie gerade Wichtigeres zu überdenken: Amélie und Lucien waren wirklich tot und ihnen drohte das gleiche Schicksal. Die Frage war nur, ob es einen Auslöser dafür gab, dass man vom Abendessen abgeholt wurde und tags drauf in einem Leichensack im Wald vor dem Institut endete.

Nach diesem Vortrag von Nadja brauchten Lena und Jonas nur einen Blick zu tauschen, um zu wissen, dass sie jetzt beide lieber heute als morgen aus diesem Institut verschwinden würden - nur wie?


WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt