VII

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Lena harrte noch einige Zeit unter dem Bett aus, bis beide den Raum verlassen hatten.
Vorsichtig schlich sie durch den Raum und horchte an der Zimmertür. Als sie sicher war, dass niemand mehr auf dem Gang war, öffnete sie die Tür vorsichtig. Dann sah sie sich um.

Sie war im letzten Zimmer auf dem Gang. Direkt rechts von ihr war eine Milchglastür. Dahinter mussten auch irgendwelche besonderen Räume sein. Sofort verließ Lena den Raum und zog die Tür hinter sich zu. Dann huschte sie zur Glastür und sperrte auf. Dahinter befand sich ein Gang wie bei den Laboren, doch nirgendwo gab es Räume zum Umziehen. Und in den ›Laboren‹ waren auch keine Geräte oder Versuche aufgebaut, sondern große, lange Schränke standen da.

In jedem Raum gab es im Eingang ein Tablet und wenn man darauf herumtippte, gingen verschiedene Schubladen in den Schränken auf. Mit leichter Hoffnung näherte sich Lena einem Schubfach und traute ihren Augen kaum, als sie die Dokumente durchlas, die dort drin lagen: Hier war alles gesammelt und dokumentiert, was im Institut passierte.

Lena lief schnell durch alle Räume und versuchte die Aufzeichnungen über die Operation zu finden.
Da! ›GOTT - GeschlechtsOrganTauschTransplantation‹. Dafür stand also das zweite ›T‹!
Lena tippte auf das Symbol und eine ganze Schrankwand ging auf. Gezählte siebenundzwanzig Schubfächer voll mit Unterlagen kamen Lena entgegen, die erstmal nur entgeistert guckte. Abgesehen davon, dass sie an einige der Unterlagen kaum drankam, weil sie viel zu hoch über ihrem Kopf lagen, würde sie so viel Papier niemals aus dem Institut herausschmuggeln können.

Und wieder kam Lena so ein Moment, in dem sie glaubte, Gottes Stimme zu hören.
›Tablets sind für euch aus gutem Grund tabu‹, hatte ihr Lehrer in der Schule einmal gesagt. ›Klar sind sie viel leichter zu tragen als ein Haufen Schulbücher, doch sie sind gefährlich. Um sie richtig zu benutzen, muss man viel lernen und wenn man sie falsch benutzt, dann sind sehr schnell alle Daten weg, die man darauf gespeichert hatte. Tablets sind Arbeitsgeräte, die man verstehen können muss. Früher war das anders, aber heute ist es wirklich gefährlich wenn man damit spielt, also lasst die Finger von den Geräten eurer Eltern!‹

Ihr Lehrer hatte damals übertrieben, das war sogar Lena klar gewesen. Er hatte auch einmal gesagt, dass Tablets jemanden umbringen könnten. Aber ein Tablet war die Lösung. Und offenbar gab es hier ja welche.
Während Lena also nach einem nicht befestigten Tablet suchte und gleichzeitig darüber nachdachte, warum hier überhaupt Papierkopien aller Akten lagerten, ging die Milchglastür auf.

Hastig rannte Lena in einen Raum und versteckte sich hinter einem der Schränke.
Gleich ging die Tür wieder auf und Lena hörte die Stöckelschuhe von vorhin.
»Was ist denn hier los?«, keifte die Stimme der Frau und plötzlich wusste Lena wieder, woher sie die Stimme kannte: Damals als Amélie und Lucien verschwunden waren, hatte sie neben den Biologielaboren herumgeschrien.
»Welcher Idiot hat hier alle Schränke aufgerissen?«

Die Stimme entfernte sich wieder, doch die Tür blieb offen.
»Na immerhin sind noch alle Tablets da. Ronja, lade bitte alle Daten über die GOTT auf Tablet 12 herunter und lösche dann alle Kopien aus der Datenbank. Ich will nicht, dass das irgendwie an die Öffentlichkeit kommt.«

Eine nicht ganz menschlich klingende Stimme antwortete: »Ja, Irina. Der Download beginnt. Ich bin in etwa 40 Minuten fertig.«
»Ich liebe diese Geschwindigkeiten. Der Rechner meines Vaters hätte fünf Stunden gebraucht. Und was man erst 2020 an Zeit dafür gebraucht hätte...«
Die Kittelfrau verließ den anderen Raum und kurz darauf klapperte die Milchglastür. Lena war wieder alleine.

Bis auf diese merkwürdige Ronja.
»Ronja?«, fragte Lena, als sie sicher war, dass die andere Frau weg war.
»Ja«, ertönte die Stimme direkt neben Lenas Ohr. Sie schrie erschrocken auf.
»Keine Angst«, sprach die Stimme weiter. Ich tu dir nichts.«
»Wer bist du?«
»Ich bin Ronja. Das Computersystem des I.R.R.T.« Die Stimme sprach die Punkte zwischen den Buchstaben mit.
»Wo bist du?«, fragte Lena nach einigen Sekunden Stille.
»Überall«, sagte die Stimme. »Direkt neben deinem Kopf zum Beispiel. Da ist einer meiner Lautsprecher.«
»Und was machst du hier?«
»Ich kontrolliere, wer reinkommt und an die Daten heranwill.«
»Dann weißt du, wer ich bin?«
»Nein. Du hast dein Namensschild nicht an.«
»Ich bin Lena«, sagte Lena und guckte an sich herunter. Sie hatte tatsächlich noch ihren Schlafanzug an.

»Hallo Lena«, sagte die Stimme.
»Du, Ronja?«, fragte Lena. »Hast du gewusst, dass ich hier war?«
»Ja.«
»Und warum hast du es der anderen Frau nicht erzählt?«
»Sie hat mich nicht gefragt.«
»Kannst du mir versprechen, dass du ihr nichts von mir erzählst?«, fragte Lena und schlich zu dem Raum hinüber, aus dem Ronjas Stimme vorhin gekommen war.
»Das kann ich, ja«, bestätigte die und ihre Stimme verfolgte Lena beim Gehen.
»Dann versprich es mir bitte.«
»Ich verspreche, dass ich Irina nicht von dir erzählen werde«, sagte Ronja und klang dabei fast ein wenig feierlich.
»Danke«, murmelte Lena.

Dann unterhielt sie sich weiter mit dem Computer, bis ein leises Geräusch ertönte. Ein Klingeln.
»Ich bin fertig«, erklärte Ronja. »Der Download ist abgeschlossen.«
»Dann werde ich Irina mal das Tablet bringen«, beschloss Lena und stand auf. »Es war nett, mit dir zu plaudern, Ronja.«
»Gleichfalls. Es ist die Nummer zwölf.«
Lena lächelte. Sie hatte das Tablet seit einer halben Stunde fest im Blick.
»Tschüss Ronja!«, verabschiedet sich Lena.
»Tschüss Lena!«, erwiderte Ronja und Lena schloss den Raum ab. Dann ging sie zu der Tür auf der anderen Seite des Flurs, wo das kleine, hintere Treppenhaus lag. Hier hastete sie nach unten und an der Hofmauer entlang bis zur Werkstatt. Das Tablet hielt sie dabei fest in ihrer Hand. In der Werkstatt wickelte sie es in einige alte Stoffreste und packte alles zusammen in einen alten Pappkarton.

Dann zog sie sich ein paar der Klamotten an, die Jonas genäht hatte und wartete.
Als Jonas nachmittags kam, war er völlig fertig. Die Pure Erleichterung war ihm anzusehen, als er Lena erblickte.

»Wir müssen hier weg, Lena. Am besten noch heute!«, sagte er verzweifelt und dann erzählte er, was sie an diesem Tag verpasst hatte. Angefangen mit seiner Übelkeit, weiter mit der Blutung, die gefolgt war, als ihn der Motorradmann ins Badezimmer gebracht hatte und die die Kittelmenschen sehr sauer gemacht hatte und über den allgemeinen Aufruhr, für den Lena mit ihrem Verschwinden gesorgt hatte bis zu dem Moment, als Melanie zur Direktorin des Instituts gerufen wurde. Telefon. Ein Notfall.

Lena lauschte gebannt und erzählte dann von ihren Erlebnissen. Sie zeigte Jonas das Tablet und sagte dann: »Ich weiß jetzt, wie wir von hier wegkommen. Zwar noch nicht heute, aber morgen. Wenn Lisa und ihr Vater wiederkommen.«

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt