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In ihrer ersten Nacht im Institut hatte Lena unbedingt gewollt, dass jemand in diesem anderen Bett schlafen sollte. Ihr war ganz egal gewesen, wer, doch inzwischen hatte sie ihre Meinung dazu grundlegend geändert: Jonas hätte gerne in seinem Kreuzberg bleiben können.

Seit seiner Ankunft wurden sie jeden Nachmittag ins gleiche Zimmer gebracht – meistens machte das die rothaarige Frau, die vom Arzt immer Melanie genannt wurde. In diesem Zimmer 04.2 wartete jeden Tag Dr. Schwarz, der Lena und Jonas untersuchte und viele Zettel vollschrieb. Während dieser Zeit war Jonas noch am erträglichsten, doch sobald sie in ihrem Zimmer eingeschlossen wurden, spielte er sich zu einem herrischen Unmensch auf, stolzierte durch den Raum, kommandierte Lena oder schwadronierte über die Schönheit des Spreewaldes vor dem Fenster.

Wenn es Essen gab, dann musste Lena schnell essen, sonst verlangte Jonas den Rest von ihrem Essen, wenn er mit seinem fertig war und dagegen wehren konnte sie sich nicht. Er war einfach stärker als Lena und verprügelte sie, wenn sie versuchte, ihr Essen zu verteidigen. Und wenn sie schlafen gingen, nahm er ihr die Bettdecke weg, um sich darunter umzuziehen, während sie dasselbe vor seinen Augen tun musste.

Doch Lena war an solche Schikanen gewöhnt. Natürlich hatten ihre Freundinnen ihr nie die Bettdecke weggenommen, aber sie hatte schnell gelernt, ihr Frühstücksbrot schon auf dem Schulweg zu essen, damit Felix es ihr auf dem Pausenhof nicht mehr abnehmen konnte. Mit anderen Worten war Jonas' Verhalten nicht neu für Lena. Nur dass es niemanden sonst gab, den Jonas schikanieren konnte, machte die Sache etwas komplizierter.

Doch auch Jonas war vorsichtig, das merkte Lena gleich am ersten Tag. Sein herrisches Verhalten hielt nur so lange an, wie sie alleine waren. Sobald jemand anders kam, war er handzahm und folgte aufs Wort. Außerdem achtete er darauf, Lena nicht zu verletzen, wenn er sie verprügelte. Irgendwann hatte er dann beschlossen, sich auf einen gezielten Schlag und lauter Zwicken an unangenehmen Stellen zu beschränken.

Lena hatte schon jegliches Gefühl dafür verloren, wie viele Tage sie schon in diesem Institut war, als Dr. Schwarz sie nach der Untersuchung nicht von Frau Melanie wieder nach oben bringen ließ.
»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, erklärte er der jungen Frau hastig, »die OP muss in der nächsten Woche stattfinden. Und so gute Kandidaten finden wir so schnell nicht wieder.«
»In Ordnung. Ich bringe sie gleich runter«, antwortete die Rothaarige und winkte Lena und Jonas hinter sich her.

Und tatsächlich ging es hinunter. Lena konnte sich in diesem Gebäude zwar immer noch nicht richtig orientieren, aber sie ahnte, dass sie bereits im Keller waren, als sie hinter Jonas durch eine weiße Tür das Treppenhaus verließ. Hinter dieser Tür lagen auch wieder weiße Gänge, doch diese hier waren in einem anderen weiß. Sie waren nämlich komplett mit Fliesen ausgekleidet. Sterile, weiße Kacheln bedeckten die Wände, die Decke und den Boden. Und alle waren gleich groß, sodass einem schlecht wurde, wenn man den Gang in eine Richtung hinuntersah.

Dann wurde Lena von der rothaarigen Frau gepackt, die genervt aussah, als sie die beiden Kinder den Gang hinunterschleppte. Vor einer Tür mit dem Schild »00.24 – OP« blieb sie schließlich stehen und schubste Lena hinein, nachdem sie die Tür geöffnet hatte. Kurz darauf fiel die Tür hinter Lena ins Schloss und sie zuckte zusammen. Lena war allein in diesem Raum, doch nicht für lange, denn kaum, dass sie sich auf die Liege in der Mitte des Raumes gesetzt hatte, ging eine andere Tür auf der anderen Seite des Raumes auf und eine Menge Menschen in weißen Kitteln kam herein. Einige gingen zu den Schränken und Regalen und holten Dinge heraus, um sie aus dem Raum zu tragen. Zwei kamen auf Lena zu, gaben ihr etwas Übelriechendes zu trinken, was noch widerlicher schmeckte und gaben ihr eine Art Kittel oder Schürze, die sie statt ihrer Kleider anziehen sollte.

Am Rande hörte Lena die Kittelträger aufgeregt flüstern. Aus Wortfetzen meinte sie erahnen zu können, dass es etwas ›Besonderes‹ sei. ›Das erste Mal‹. ›Frau Doktor ist selbst dabei‹. ›Eine völlig neue Methode‹. ›Eine Revolution der Medizin und der Biologie‹.

Frau Doktor schien aber noch nicht anwesend zu sein und so dämmerte Lena auf der Liege liegend weg, während sie überlegte, wer wohl die mysteriöse Frau Doktor sein könnte.

Als Lena wieder zu sich kam, fühlte sie sich, als hätte sie den ganzen Tag auf den Gleisen einer Güterzugstrecke gelegen. Sie hörte ein ständiges Piepsen und alles, was sie an ihrem Körper bewegen konnte, waren ihre Augenlider. Und das auch nur millimeterweise.

Das nächste Mal kam Lena zu sich, als gerade jemand über ihrem Bett stand. Sie registrierte zwar nicht mehr als den Schatten und einen etwas süßlichen Duft, doch es war immerhin etwas, das sie wahrnehmen konnte, bevor sie wieder wegdämmerte.

Lena kam noch einige Male zu sich und dämmerte wieder weg, ohne mehr als die Augenlider bewegen zu können. Später konnte Lena sich nicht mal erinnern, wie lange sie gebraucht hatte, doch einmal, als sie wieder zu sich kam, spürte sie ein Kribbeln im Zeh. Mit ruckartigen Bewegungen versuchte Lena, dieses Gefühl zu quittieren. Als ihr dann bewusst wurde, dass sie zumindest ihren Zeh wieder benutzen konnte, wurde vieles leichter.

Irgendwann wurde Lena in ihrem Bett mit all den Schläuchen zurück in ihr Zimmer gefahren. Sie wusste nicht, wie lange es her war, dass Jonas und sie von dieser rothaarigen Ärztin abgeholt worden waren. Als sie im Zimmer ankamen, war es leer. Nicht einmal die Betten oder die Nachtschränkchen standen mehr darin. Lenas Bett wurde mit der Kopfseite an die der Tür gegenüberliegende Seite des Zimmers in eine Ecke geschoben, bevor die Personen, die sie hergebracht hatten, kommentarlos gingen.

Erst als Lena wieder erwachte, merkte sie, dass sie erneut weggedämmert war. Gerade waren einige Männer und Frauen in weißen Kitteln dabei, ein zweites Bett auf der anderen Seite des Fensters zu platzieren. Es fiel Lena zwar nicht leicht, doch sie schaffte es, den Kopf zu drehen und meinte, Jonas in dem anderen Bett zu erkennen.

Als das Bett dann fest stand und alle Kabel, Schläuche und alles weitere wieder richtig eingerichtet worden war, gingen alle Kittelträger aus dem Raum. An ihrer Stelle betrat der Motorradmann das Zimmer und erklärte Lena und Jonas, was die Ärzte bei der OP gemacht hatten.

›Geschlechtsorgantransplantation‹ nannte sich die OP wohl und die Ärzte nannten es kurz die ›GOTT-OP‹. Wo das zweite T herkommen sollte, erschloss sich Lena zwar nicht, aber sie hatte auch keine Kraft, jetzt Nachfragen zu stellen. Die Quintessenz des Vortrags des Motorradmannes war jedenfalls, dass Lena jetzt ein Junge war und Jonas ein Mädchen. So drückte er es aus, als er wohl begriff, dass keines der Kinder mit seinem Fachchinesisch etwas anfangen konnte.

Eigentlich war es ja fast nett von dem Motorradmann, uns davon zu erzählen, dachte Lena sich, als sie später wieder alleine in dem Zimmer waren und wunderte sich im gleichen Moment über sich selbst. Am Ende kam sie aber zu dem Schluss, dass sie jetzt auf jeden Fall nur das Positive betrachten wollte und sich auf keinen Fall mit dem Penis beschäftigen wollte, der nun angeblich an ihr dranhing.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt