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Die Werkstatt war tatsächlich ein Paradies. Direkt nach dem Sport wurden Lena und Jonas über den Hof in den verschlossenen und mehrfach gesicherten Raum gebracht, wo es viel mehr gab als Holz und Hämmer und Nägel.

An einer langen Wand standen aufgereiht sechs eingestaubte Nähmaschinen unter großen Schrankmodulen, die etwa auf Kopfhöhe eines erwachsenen Menschen hingen. Hinter den Nähmaschinen hingen an der Wand die Werkzeuge wie Hämmer, Zangen, Schraubendreher und sogar Maurerkellen machte Lena aus. All das sah zwar nicht nach einer modernen Werkstatt aus, sondern eher nach einem Museum für antike Handwerkskunst aus dem 20. und frühen 21. Jahrhundert, aber es war heimelig und alle Möbel waren in einem warmen braun angestrichen, was dem Raum eine unerklärliche Wärme verlieh.

Das einzige nicht-braune im Raum war der grün gekachelte, antike Ofen, der die einzige echte Heizquelle des Raumes darstellte. Ihn umgaben dunkelbraune Holzschränke, in denen augenscheinlich viel untergebracht werden konnte.
An den beiden kurzen Wänden waren weitere kleine Arbeitsflächen errichtet, über denen Korkwände und Whiteboards hingen, als könnte man an ihnen planen, bevor hier zu mehreren am gleichen Projekt gearbeitet würde.

Zwischen den langen Wänden, stand ein langer Tisch, an dem auch viele Arbeitsflächen eingerichtet waren. Theoretisch konnte man diesen Tisch sogar von beiden Seiten benutzen und nach einem Blick auf die Arbeitsflächen zu urteilen war in der Zeit seiner Benutzung dort viel mit Leim gearbeitet worden, doch heute kam man an den Tisch nicht mehr heran. Stattdessen war im ganzen Raum nur ein schmaler, L-förmiger Streifen von der Tür bis zur hinteren Wand und dort an der Arbeitsfläche entlang bis zum anderen Ende des Raumes begehbar. Die gesamte Arbeitsinsel und die Wand mit Schränken und Kachelofen war mit tausenden von Pappkartons blockiert.

Der Motorradmann, der sie wie immer durchs Institut führte, zog Lena und Jonas mit sich und brachte sie in die gegenüberliegende Raumecke zu den Werkzeugen, die an der Wand hingen. Von hier aus sah man, dass auch an dieser kurzen Seite ein wenig Platz zum Laufen war. Allerdings konnte man hier nicht an den Arbeitsflächen werken, sondern nur durch die Kartons waten, um zu den Holzresten zu kommen, die dahinter aufgestapelt waren.

Nach einer kurzen Einweisung, wie die Werkzeuge hinterher wieder zu verstauen waren, verschwand der Motorradmann. Jonas machte sich sofort an der Kiste zu schaffen und untersuchte die abgeplatzte Ecke.
Lena, die keine Ahnung davon hatte, was Jonas da tat, setzte sich oben auf die Werkbank und schaute ihm bei der Arbeit zu.

Es dauerte nicht lange, bis Jonas die drei instabilen Latten identifiziert hatte. Zur Sicherheit kontrollierte er auch die anderen Latten noch einmal, doch es blieb bei drei auszutauschenden Latten.
Lena, die auf der Werkbank saß kam besser an die Werkzeuge und an die Schränke heran und so reichte sie Jonas an, was er brauchte: Erst eine Zange, um die Latten sauber aus der Kiste herauszubekommen, dann eine Säge, um die neuen Latten zu kürzen und schließlich Hammer und Nägel, um die neuen Latten sicher anzubringen.

Bei der Säge entstanden kleine Schwierigkeiten, weil Lena der Unterschied zwischen einer Holz- und einer Metallsäge einfach nicht klarwerden wollte. Und auch mit den Vokabeln Laubsäge und Fuchsschwanz wusste sie nichts anzufangen, was Jonas lange und ausgiebig mit dem Kopf schütteln ließ.

Doch pünktlich zum Mittagessen waren sie fertig und es hatte auch Lena so viel Spaß gehabt, dass sie kurzzeitig die düsteren Gedanken über Amélie und Lucien vergessen hatte.
Umso schmerzhafter kamen die Sorgen dafür zurück und schlugen Lena beim Mittagessen auf den Magen. Die düstere Ahnung, dass etwas Schlimmeres passiert war, ließ Lena kaum einen Bissen essen, auch wenn sie vom morgendlichen Sport doch Hunger hatte.

Nach dem Mittagessen mussten Lena und Jonas dem Motorradmann und dem anderen Kittelmann aus dem Schuppen die Kiste zeigen und die beiden waren begeistert. Sie waren sogar so begeistert, dass der Motorradmann ihnen anbot, die Werkstatt öfter zu nutzen und dort auch Sachen für sich selbst zu basteln, wenn sie dafür auch die Möbel reparierten, die im Tagesgeschäft beschädigt wurden.

Jonas willigte schneller ein als Lena zucken konnte und der Motorradmann versprach ihnen, dass sie nach dem Sport und nach den Laborzeiten immer herkommen dürften und der andere Kittelmann aus dem Schuppen würde ihnen aufschließen. Lena konnte Jonas Begeisterung dafür zwar nicht teilen, aber sie hielt ihren Mund, um die Gunst des Motorradmannes nicht zu verspielen. Und in einer Werkstatt herumzusitzen war auch nicht viel schlechter als in einem Raum mit anderen herumzusitzen und lächerliche Rätsel zu machen oder 1000-Teile Puzzle zusammenzusetzen, die eine weiße Fläche ergaben.

Tatsächlich warteten am späteren Nachmittag schon einige Möbel in der Werkstatt auf Lena und Jonas und Lena begann schon, daran zu zweifeln, dass es überhaupt eine gute Idee gewesen war, zuzustimmen, aber Jonas meinte, dass er sowieso nicht wisse, was er für sie basteln sollte.

So begann Jonas, an den Möbeln zu arbeiten, während Lena daneben saß und mit kleinen Holzresten spielte. Auch ihr fiel es schwer, sich etwas auszudenken, was man basteln könnte und so spielte sie mit dem Holz nur etwas herum, bis sie plötzlich zwei Latten in eine bekannte Position brachte. Lena schnappte sich sechs kleine Nägel und einen Hammer und hämmerte drauf los.

Mit zwei der Nägel befestigte sie die beiden Holzstücke zu einem Kreuz und die anderen vier Nägel schlug sie ins Kreuz, als befände sich dort jemand, den sie kreuzigen wollte. Dieses Kruzifix in ihrer Hand gab Lena ein ganz neues Gefühl - und gleichzeitig war es altbekannt und nur ganz tief in ihr vergraben.
Als Lena das Kreuz mit den Nägeln in ihrer Hand betrachtete, spürte sie plötzlich eine neue Form von Hoffnung und Zuversicht. Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte vor ihren Augen ein weißes Auto auf, ein Cabrio mit einer blonden Frau, die Lena aus dem Waisenhaus abholte. Dann dachte Lena an Vater Bölke und daran, wie gerne sie mal wieder mit ihm über Gott sprechen würde.

›Mein Gott‹, dachte Lena. ›Jetzt hast du mich aber wirklich verlassen!‹
Und gleichzeitig spürte Lena, wie nur durch dieses Kreuz in ihrer Hand Gott ihr wieder näherkam und ihr warm zulächelte, als ob er dieses Kreuz gebraucht hätte, um sie in diesem Institut wiederzufinden.
Dann musste Lena an Hanna denken und schmunzeln, die Vater Bölke mehr als einmal gefragt hatte, ob Gott eigentlich Fußball spielen könne.

Als sie sich dann auf den Weg zum Abendessen machten, blickte Lena schon mit einiger Zuversicht in die Zukunft und mit Stolz auf den vergangenen Tag. Jonas hatte einen Stuhl für den Speisesaal ausgebessert und Lena hatte ihre Hoffnung wiedergefunden. An diesem Ort, der Gott so fern war wie es nur ging, fand sie Gott ausgerechnet in einer Werkstatt zwischen alten Möbeln und ganz viel verstaubtem Plunder.

An diesem Abend dauerte es lange bis Lena wieder an Amélie dachte. Und als das etwas jüngere Mädchen sich dann in Lenas Gedanken schlich, war sie wieder voller Hoffnung, Amélie bald wiederzusehen und in die Arme schließen zu können.


WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt