Metalog

21 4 6
                                    

»Lisa?«, fragte der Wäscher seine Tochter eines Morgens beim Frühstück, »hilfst du mir heute mit dem Auftrag aus dem Institut? Ich könnte zwei zusätzliche Hände gebrauchen.«

Die Vierzehnjährige sah ihren Vater leicht genervt an. »Frag doch deine Anna!«, erwiderte sie pampig.

Der Wäscher seufzte. »Weißt du, Lisa«, meinte er dann, »Anna hat dich wirklich gern. Und seit Mama tot ist, distanzierst du dich von allen. Anna soll ja auch keine Ersatzmutter für dich sein, aber sie kann deine Freundin werden. Du musst sie nur lassen.«

»Ach ja? Ich will aber nicht, dass sie meine Freundin wird! Ich will meine Mutter zurück!«

»Aber Mama ist tot, mein Schatz. Schon seit anderthalb Jahren. Das ändert sich nicht mehr.«

»Ach ja? Stell dir vor, das weiß ich auch! Ich geh' trotzdem nicht mit dir in dieses doofe Institut!«

»Na gut. Ich fahre heute Nachmittag um 3. Wenn du es dir noch anders überlegst, kannst du gerne mitkommen.«

Nach dem Frühstück zog Lisa sich die Schuhe an und lief in den Ort. Sie ließ sich von ihren Füßen tragen und merkte erst, dass sie vor dem Friseursalon stand, als Anna mit einem freundlichen Lächeln heraustrat und sie ungefragt in die Arme nahm.

Etwas unwirsch machte Lisa sich los. »Können wir reden?«
»Natürlich«, antwortete die Friseurin vorsichtig und hielt Lisa die Tür zu ihrem Laden auf.

»Was willst du von Papa?«, fragte Lisa direkt, als die Tür ins Schloss gefallen war. Anna runzelte die Stirn.

»Was sollte ich von deinem Papa wollen?«, stellte sie die Gegenfrage.

»Ich will wissen, ob es dir ernst mit ihm ist. Zuhause ist nichts mehr so, wie als Mama noch lebte. Papa kriegt das alleine einfach nicht hin. Also macht ihr entweder ernst oder ihr hört auf mit diesem dummen Spiel, damit Papa sich eine richtige Frau suchen kann.«

»Und was lässt dich annehmen, dass dein Vater das überhaupt will?«, fragte Anna hart und begann den Spiegel zu putzen.

»Was sollte Papa sonst wollen? Er vermisst Mama doch auch!«

Anna seufzte. »So funktioniert das aber nicht, Lisa. Dein Papa wird niemanden finden, der deine Mama ersetzen kann. Und ganz besonders kann ich deine Mutter nicht ersetzen. Ich kann dich aber unterstützen, so gut es geht. Auch wenn ich nicht deine Mutter bin.«

»Und was bringt mir das dann?«, fragte Lisa trotzig. »Ich will meine Mutter wieder zurück.«

»Du wirst deine Mutter aber nie zurückbekommen. Kein Mensch kann dir deine Mutter zurückgeben.«

Anna machte eine kurze Pause und als sie merkte, dass Lisa ihr noch zuhörte, sagte sie: »Aber du hast noch einen Vater. Und wenn du dich weiter so versteckst, wirst du ihn irgendwann auch so verloren haben wie deine Mutter, nur dass er dann noch lebt. Ihr werdet voreinander stehen und nicht wissen, wer der andere ist. Und im schlimmsten Fall wird er irgendwann sterben, ohne dass du ihm noch einmal gesagt hast, wie sehr du ihn liebst.«

All der Trotz, der sich in Lisa angestaut hatte und der sich jetzt gegen ihren Vater und seine Friseurin entladen wollte, kochte in dem Mädchen hoch, das vor dem Friseursalon stand und trieb sie zur Flucht. Lisa floh vor allem, was ihr in den letzten Monaten immer mehr Angst machte und lief - ohne es zu beabsichtigen - zu dem Ort im Wald, mit dem sie ihre besten Erinnerungen mit ihrer Mutter verband: eine alte, verwitterte Holzbank, umgeben von Brombeersträuchern und eingerahmt von zwei alten Buchen.

Die Brombeeren waren noch nicht reif. Der Wind rauschte leise durch die Wipfel der Bäume, doch die Sträucher gaben Lisa Windschatten. Die Sonne glitzerte zwischen feuchten Zweigen und grünem Laub. Die Idylle war perfekt, doch Lisa fehlte hier mehr denn je ihre Mutter. Wie erstarrt hockte das Mädchen auf der Bank und starrte ins Grün des Waldes, während Gedanken wie schwere Güterzüge durch ihren Kopf rasten.

Schließlich fasste sich Lisa ein Herz und machte sich auf den Rückweg. Bis drei Uhr hatte sie noch genügend Zeit und auf dem Weg zum Institut hatte sie genug Zeit, aus ihrem Vater die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter herauszuholen.

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt