VII

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»Errare Humanum Est«, las Lena vor und blickte stirnrunzelnd zu Jonas auf. »Weißt du, was das heißt?«
»Nö«, erwiderte er und sah kaum von seinem Tischbein auf, das er gerade reparierte.
»Errare Humanum Est«, murmelte Lena vor sich hin und überflog die Seiten des Schulheftes, aus dem sie diesen Satz hatte.
»Das scheint Latein zu sein. Jedenfalls steht ›Latein‹ ganz oft in diesem Heft drin«, bemerkte sie.
»Aha. Kannst du Latein?«, fragte Jonas ungerührt.
»Nein. Du?«
»Nö.«

Daraufhin blätterte Lena weiter. Zu doof, dass sie in der Schule kein Latein gelernt hatte. Von Vater Bölke wusste sie, dass vor fünfzig Jahren noch relativ viele Schüler Latein gelernt hatten. Inzwischen gab es Städte, in denen es keine einzige Schule mehr mit Lateinlehrern gab. Einfach, weil es keine Lateinlehrer gab.
Hier an dieser Schule war Latein aber offenbar unterrichtet worden. Und noch eine andere Sprache war hier unterrichtet worden, die Buchstaben verwendete, die immer etwas anders aussahen als die deutschen. Mal war links oder rechts ein Haken dran oder es ging ein Strich viel zu weit nach unten. Aber lesen konnte man das nicht, denn es ergab überhaupt keinen Sinn. Beispielsweise gab es zwei verschiedene ›n‹ und zwei ›o‹, dafür gab es aber kein x und kein z, sondern nur seltsame gekringelte, senkrechte Linien oder Zeichen, die aussahen wie eine Gabel mit drei Zinken, von denen manchmal zwei miteinander verschmolzen waren.

Vielleicht war das Griechisch – zumindest hatte Lena das mal irgendwo in einem der alten Schulhefte gelesen – aber Lena kannte weder ein Griechland noch ein Griechien wo so ein Griechisch gesprochen werden könnte.
Was Lena an dieser Sprache auch verwirrte war das große ›A‹. Mal hatte es den Strich in der Mitte, mal ganz unten und mal hatte es gar keinen Strich. Was auch immer das für eine Sprache war – sie war komisch.

Lena schlug das Lateinheft, das sie in der Hand hielt zu und zog das nächste Heft aus der Kiste zu sich heran. ›Deutsch‹, stand in Blockschrift darauf und Lena öffnete das Heft fröhlich in der Erwartung, zu verstehen, was darin stand, doch was ihr entgegenkam verwirrte sie noch mehr als das Lateinheft.
»Hier steht das schon wieder!«, rief Lena Jonas zu. »Diesmal in einem Deutschheft. Und daneben steht: Irren ist menschlich.«
»Das ist dann wohl die Übersetzung«, vermutete Jonas und schliff eine Stelle am Tischbein ab.
»Meinst du?«
»Klar. Warum sollte man es sonst daneben schreiben?«
»Was weiß ich? Auf jeden Fall steht hier auch noch ›Es irrt der Mensch, solang er strebt.‹ Und ›Das also ist des Pudels Kern‹ und ›Da steh' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor!‹ Was soll das denn bitteschön alles heißen?«
»Tja, was fragst du mich? Ich hab davon genauso wenig Ahnung wie du! Aber ›als wie‹ in einem Satz klingt irgendwie falsch, wenn du mich fragst.«

›FAUST‹, stand auf der nächsten Seite als große Überschrift über vielen Zitaten mit Randbemerkungen und auch die Zitate von der ersten Seite waren hier aufgeführt. Zumindest nahm Lena an, dass es sich bei diesen Sprüchen um Zitate handelte, denn immerhin standen sie in Gänsefüßchen und nirgendwo stand dabei, wer die wörtliche Rede sprach. Da es also keine wörtliche Rede war, musste es eben ein Zitat sein – was auch immer das genau war.
›Faust ist ein Trottel‹, stand ohne Gänsefüßchen am Fuß der Seite. Da Lena nicht genau wusste, wie sie das einzuordnen hatte, blätterte sie um und blickte auf lauter kleine Zeichnungen.

Es war wie eine Bildergeschichte: Ein Mann lief erst von einer Versammlung weg. Dann traf er einen Hund, der mit ihm mitkam. Dann waren sie plötzlich in einem Zimmer und der Mann stand mit erhobenen Händen da und redete entweder laut oder musste herzhaft gähnen – das konnte Lena nicht so genau sagen. Auf jeden Fall verwandelte sich dann der Hund auf drei Bildern langsam in den Teufel mit rotem Umhang und schwarzen Hörnern.
Vater Bölke hatte zwar nie viel über den Teufel gesprochen, aber Lena wusste, dass das hier der Teufel sein musste.

»Es irrt der Mensch, solang er strebt«, murmelte Lena vor sich hin. Dann fragte sie laut: »Was meinst du, Jonas? Irrt Gott auch? Genauso wie die Menschen?«
»Ich weiß nicht. Du bist hier der Experte für Gott«, entgegnete Jonas. »Außerdem: Was soll das überhaupt heißen – ›es irrt der Mensch‹? Wie irrt man denn bitte?«
»Indem man sich irrt, glaube ich«, vermutete Lena.
»Und warum schreiben die das dann nicht so sondern irgendwie komisch?«
»Vielleicht hat man das früher so gesagt. Die Hefte sind ja schon älter.«
»Vielleicht. Und was heißt der Spruch dann ganz? Dass man sich sein ganzes Leben lang immer nur irrt?«
»Weiß nicht. Was bedeutet denn streben?«
»Ach keine Ahnung! Die Leute haben früher komisch geredet.«
»Aber ich kenne das Wort. Ich glaube Vater Bölke hat das mal benutzt oder so.«

»Vielleicht solltest du mal deinen Vater Bölke fragen, ob Gott sich irren kann«, überlegte Jonas. »Der weiß das bestimmt.«
»Ach was, das glaube ich nicht. Der glaubt ganz fest daran, dass Gott ein guter Gott ist und bestimmt glaubt er auch, dass Gott immer alles richtig macht. Da kann er sich ja schlecht irren.«
»Ach und du glaubst das nicht?«
»Naja, was ist denn zum Beispiel mit diesem Experiment? Die machen das doch wegen Menschen, die als Mann geboren sind und in ihrem Inneren eigentlich eine Frau sind.«
»Ja und?«
»Naja, Gott macht doch die Menschen. Warum macht er denn Menschen, die eine Frau sind und gibt ihnen einen Penis? Hat er dann nicht eigentlich einen Fehler gemacht?«

Jonas lachte laut. »Vielleicht. Aber das wäre schon echt witzig. Sitzt da so ein alter Mann und formt einen Menschen und denkt sich: ›Hm. Das ist ein Mann. Wie wärs, wenn ich ihm statt Penis einfach eine Scheide und Brüste gebe?‹ Oder noch besser: Sitzt da ein alter Mann, der formt einen Menschen und denkt sich: ›Hm. Was war das jetzt nochmal? Mann oder Frau? Ich hab's vergessen. Ach egal: ich mach 'ne Frau draus.‹«
»Ja, lach nur. Aber im Grunde ist es doch so!«
»Ja, kann sein. Aber dann musst du zugeben, dass dein Gott ein Trottel ist.«
»Nein, Gott ist kein Trottel. Er ist ja auch kein Mensch. Er kann gar nicht wie ein Mensch sein, also kann er auch kein Trottel sein.«
»Aber sich irren kann er schon, oder wie? Ist das nicht auch menschlich? Hast du das nicht gerade vorgelesen? ›Irren ist menschlich?‹«
»Ja, schon. Ach egal! Das ergibt doch alles keinen Sinn! Wenn irren wirklich menschlich ist, dann kann Gott sich ja auch nicht irren.«
»Das sagte ich doch gerade! Aber sieh es mal so: Vielleicht hat Gott sich bei den Menschen gar nicht geirrt, sondern das mit voller Absicht gemacht. Vielleicht wollte er den Menschen einen anderen Körper geben.«
»Und warum sollte er das tun? Das ist ja voll gemein!«
»Was weiß ich? Er ist immerhin Gott oder nicht? Wie könnten wir irgendwas darüber wissen, was er sich bei irgendwas denkt?«

»Vielleicht will Gott denjenigen eine Aufgabe aufgeben oder so«, vermutete Lena vage. »Vielleicht geht es darum, dass sie auf diese Weise ganz individuell auf die Welt gucken und den anderen Menschen so zeigen können, wo sie ein bisschen einfühlsamer sein müssten.«
»Und wenn Gott Gott ist und über alles bestimmen kann, dann könnte er auch eine Welt schaffen, in der es solche Menschen gar nicht gibt und in der das deswegen überhaupt nicht nötig ist.«
Lena schüttelte den Kopf. »Das würde Gott nicht machen. Die Welt wäre dann bestimmt viel zu langweilig, um in ihr zu leben.«
»Wenn du das sagst. Aber es wird langsam dunkel draußen. Wir sollten wohl langsam zum Abendessen aufbrechen.«

Als Lena und Jonas über den Hof liefen, fiel Lena noch etwas ein, was sie Jonas unbedingt sofort fragen musste: »Kennst du eigentlich ein Griechland oder ein Griechien? Oder irgendwie einen Ort, wo man Griechisch spricht?«
»Das heißt Griechenland«, erwiderte Jonas und ergänzte im schönsten Besserwisserton: »Das liegt in der Türkei.«

WER BIST DU? - Auf der Suche nach sich selbstWo Geschichten leben. Entdecke jetzt