Ich war seit zwei Wochen nicht mehr in der Schule. Ich versuchte mich an den Hausaufgaben, die Embry mir ohne zu fragen vorbeigebracht hatte.
Ich starrte auf die Nummern auf dem Blatt vor mir. Das Mathebuch war auf Seite 27 aufgeschlagen: Betrag von Vektoren berechnen.
Einfach. Aber ich konnte es nicht. Ich versuchte mir Notizen aus dem Buch zu machen. Ich probierte mich an einfachen Aufgaben. Es war einfach, so einfach. Warum schaffte ich das nicht? Los, streng deinen Kopf an, mach irgendwas! Aber meine Gedanken konnten sich nicht lange genug an einer Stelle halten, um sich zu manifestieren.
Ich musste noch einkaufen, Mum musste zur Kontrolle ins Krankenhaus, wer fährt sie? Vanessa? Nein, hatte sie nicht heute erst ihre Fahrprüfung? Aber wer hat dann heute Josh in die Schule gefahren?
Klopfen an meiner Tür riss meine Gedanken für kurze Zeit auseinander.
Die Tür ging auf, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte. Vanessa also.
Ich drehte mich in meinem Stuhl vom Schreibtisch zur Tür, während ich den Mund öffnete, um zu fragen: „Was gi-". Aber die Worte blieben mir im Halse stecken, als ich sah, dass Paul vor mir stand. Auch wir hatten seit der Nacht im Krankenhaus nicht mehr miteinander geredet. Meine Gedanken schlugen in andere Richtungen um und entwickelten sich wieder zu einem Sturm. Nur am Rande konnte ich wahrnehmen, wie Paul, etwas nervös, weiter in mein Zimmer ging und sich an die Kante meines Bettes setzte. Oh ja, Paul Lahote brauchte nie eine Einladung.
„Er macht sich Sorgen um dich, weißt du?" Er klang auch besorgt. Und das tat mir schon fast leid. Trotz meiner erbärmlichen Situation hatte ich wieder etwas Hoffnung. Hoffnung darauf, mein Leben in den Griff zu bekommen. Eine Familie zu haben, und Freunde. Und auch wenn ich mir über Jared noch nicht besonders sicher war, so wusste ich doch, dass ich auf Paul bisher immer zählen konnte. Er fuhr mich mitten in der Nacht ins Krankenhaus! Und dabei kannten wir uns weder besonders gut, noch besonders lange.
„Ihr müsst euch keine Sorgen machen", sagte ich schließlich. „Jetzt kannst du ihm ja erzählen, dass du mich gesehen hast und dass es mir gut geht."
„Nur bin ich mir nicht sicher, ob ich ihn dann anlüge. Ich bin mir nicht sicher, ob es das ist, was ich sehe."
Mein Geduldsfaden war sehr dünn aufgrund der aktuellen Situation. Doch noch konnte ich ruhe behalten und versuchen diplomatisch zu sein.
„Okay, was muss ich tun, um dich davon zu überzeugen?" Ich versuchte es betont entspannt klingen zu lassen.
Paul holte tief Luft. „Vielleicht könntest du mal das Haus verlassen, wieder zur Schule kommen, mit irgendjemandem reden."
Etwas getroffen war ich, doch versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen.
„Insofern du dich dazu in der Lage fühlst", setzte er hinterher. „Wenn dem nicht so ist, dann geh trotzdem raus und fotografiere. Lies Bücher, schreibe deine Gedanken auf, tu irgendwas! Rede trotzdem mit irgendwem-"
„Ich rede nicht mit Jared!", sagte ich sofort.
„Ist ja gut, hast du etwa seinen Namen gehört? Oder hat er einen Antrag auf Namensänderung eingereicht? Allerdings zweifle ich das an. Wenn ich Jared heißen würde, würde ich meinen Namen auch ändern lassen, allerdings nicht zu ‚Irgendjemand'. Das wäre irgendwie kontraproduktiv..."
Ich zog eine Augenbraue hoch und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Kontraproduktiv, mhm?", fragte ich. „Seit wann befinden sich denn solch lange Vokabeln in deinem Wortschatz?"
Auch er musste schmunzeln und ich sah seine Schultern etwas fallen.
„Hab letzte Geschichtsstunde aus Versehen ins Buch geguckt, aber erzähl's keinem" meinte er halb lachend. Dann wurde seine Miene wieder etwas ernster.
„Weißt du, man kann mit mir reden. Auch über ernstere Themen. Ich dachte, dass hätte ich dir schon bewiesen..."
„Hast du!", beeilte ich mich zu sagen. „Nur... Wenn ich zu wenig rede, habe ich das Gefühl, das ist falsch. Aber wenn ich auch nur etwas rede, bekomme ich sofort das Gefühl, dass ich zu viel rede. Ich möchte nur keinen noch zusätzlich belasten."
Paul stieß einen säuselnden Pfiff aus. „Seit wann kannst du denn so dumme Rückschlüsse ziehen?"
Es hätte scherzhaft gemeint sein können, doch sein Gesicht blieb weiterhin ernst.
„Das ist nicht witzig", sagte ich trotzig.
„So war's auch nicht gemeint."
„Gott, seit wann bist du denn so ernst?"
„Seit wann bist du so ungehalten?", konterte er zurück und imitierte meine hochgezogenen Augenbrauen. Sein Blick fixierte mich fest und ich versuchte gar nicht erst, diesem Stand zu halten. Es herrschte Schweigen und die Luft schien zu knistern. Die Stimmung war komplett umgeschlagen. Ich konnte fühlen, wie Paul immer noch in meine Richtung blickte. Grade als ich mich seinem Blick doch stellen wollte, fiel sein Kopf nach unten, er ließ die Schultern hängen und legte seine Hände in seinen Nacken. Paul wog sich vorn und zurück. Ich war schockiert.
„Paul?", fragte ich vorsichtig, meine Stimme erklang jetzt viel sanfter.
„Denkst du", setzte er an, als sein Kopf plötzlich wieder hochschoss, „dass du die einzige Person bist, die Schwierigkeiten hat? Die eine beschissene Familie hat? Kaum Kindheit? Hinterfragst du, warum Menschen so handeln, wie sie es tun?"
Meine Augen konnten sich nur weiten und ich bekam keinen Ton raus.
„Hast du hinterfragt, warum Jared dich versetzt?"
„Ja", krächzte ich.
„Und zu welchem Schluss bist du gekommen?", wollte er wissen.
„Ich-„ Ich holte rasselnd Luft. „Ich dachte, er mag mich nicht."
„Und wieso, wieso zur Hölle, kommt er dann IMMMER wieder? Warum lässt er nicht locker? Hast du das auch schon mal hinterfragt? Hast du hinterfragt, warum er dir nichts erzählen kann?"
Paul stand vom Bett auf und ich wich augenblicklich zurück, bis ich gegen meinen Schreibtisch stieß. Zeitgleich konnte man beobachten, wie sich Pauls Blick klärte und er begann tief ein- und auszuatmen.
„Kim." Er blickte mit halboffenen Augen zu mir zurück, die Hände leicht gehoben und so weit von mir weggerückt, dass er mit seinen Waden gegen mein Bett stieß.
„Kim, ich würde dir nie etwas tun. Bitte habe keine Angst vor mir, ich versuche bloß, die ganze Geschichte zwischen dir und Jared zu verstehen."
Auch ich begann nun tief ein- und auszuatmen.
„Es war nicht fair, dir Vorwürfe zu machen. Ich kenne nicht die ganze Geschichte. Aber Jared ist mein bester und einziger Freund. Ich will das für ihn, was gut für ihn ist. Und ich glaube, nein, ich weiß, dass du das Beste für ihn bist. Und er kann dir genauso viel geben, wie du ihm. Deshalb verstehe ich nicht, weshalb das zwischen euch einfach nicht vorankommen will."
„Ich war auch nicht fair. Ich habe anscheinend einen wunden Punkt bei dir getroffen und das tut mir wahnsinnig leid! Du bist eine Konstante, eine Person, auf die ich mich verlassen kann. Du hast oft genug bewiesen, dass du ernst sein kannst. Paul, wir sind auch Freunde. Ich schätze dich und deine guten Absichten. Aber du hast recht, du kennst nicht die ganze Geschichte. Deshalb ist das Ganze schwieriger, als es von außen aussehen mag."
„Dann...", fing Paul unschlüssig an. „Dann hol mich rein."
„Was? Worin?", fragte ich nervös.
„In deine Welt. In das Problem. Erklär dich mir. Sprich mit mir. Lass mich ein Freund für dich sein."
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Ich hoffe, euch gefällt das Kapitel!
Hinterlasst mir gerne Feedback :-)
eure Loony
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Liebe kann...
FanfictionKim weiß genau wie es sich anfühlt nicht beachtet zu werden. Sie lässt ihr Leben von anderen und der Vergangenheit bestimmen. Bis Jared, der Junge in den sie heimlich seit Jahren verliebt ist, sich für sie zu interessieren scheint, beginnt sie ihr...