-3-

52 4 1
                                    

POV: Jessica

Eine Woche war schon vergangen, seitdem Ena von ihrem Arbeitgeber gekündigt wurde. Am vergangenen Donnerstag waren wir zusammen bei der Agentur für Arbeit und Ena war seitdem am Überlegen, ob sie weiterhin als Optikerin arbeiten möchte. Sie hatte auch über eine Anstellung im Büro nachgedacht oder sogar noch eine Ausbildung im sozialen Bereich zu machen. Mit der Kleinen von Tim ist sie in den vergangenen Tagen auch sehr gut zurechtgekommen; Ena war hin und weg, jeden Tag rief sie mich an und erzählte mir von dem Erlebten. Ich war mehr als froh, dass sie einen Mann wie Tim an ihrer Seite hatte, gerade auch in dieser Zeit. Lukas hatte ich leider nicht nochmal gesehen, seitdem er mich zurück nach Göttingen gefahren hatte. Laut seiner Aussage tat er sich auch etwas schwer, seine beiden Parts zu schreiben.

Ich steckte nun voll und ganz in der Planung der Zweigstelle, Linda hatte mir alle Unterlagen per Mail zukommen lassen, die ich gerade im Büro durchging. Ebenfalls musste ich die Praktikumsunterlagen für Sören noch fertigstellen und das Auswertungsgespräch führen, sein Praktikum endete diese Woche. - Fünf Minuten Pause, bevor mir noch mein Kopf platzt. - Gerade lehnte ich mich in meinem Stuhl etwas zurück und nahm mein Handy in die Hand, als das Telefon auf meinem Schreibtisch zu klingeln begann, meine Buchhalterin rief an.

"Schönen guten Tag, Frau Wolf.", begrüßte ich sie höflich.
"Hallo Frau Winkler, es gibt ein kleines Problem. Die letzte Rechnung der Buchhaltung und auch die, der Lohnabrechnung wurden nicht beglichen. Die beiden Honorarnoten wären am 16. November fällig gewesen.", ich wurde hellhörig.
"Bitte? Das kann nicht sein, ich hatte doch abgeklärt, dass die bezahlt werden, zu der Zeit war ich selbst nicht im Betrieb. Ich werde mich umgehend darum kümmern. Bitte verzeihen Sie mir diesen Fauxpas."
"Ich wollte Sie nur nochmal darauf hinweisen, bevor wir den Mahnlauf einleiten würden. Bitte denken Sie auch daran, mir in den nächsten Tagen die Buchhaltungsunterlagen für Oktober zur Verfügung zu stellen, am 10. Dezember ist Fristende."
"Ähm... Okey... Ich... Ich komme morgen vorbei und würde die Unterlagen zu Ihnen bringen."
"In Ordnung, Frau Winkler, bis morgen. Ich wünsche noch einen schönen Tag.", das Telefonat war beendet und ich legte den Hörer auf.

Sofort öffnete ich die Post, die seit Beginn der Woche in meinem Büro gelandet war. - Rechnung für Telefonkosten... Werbeagentur... Mahnung von WM... Werbung... Mahnung von atp... - Ich loggte mich im Account beim Online-Banking ein. - Zurückgebucht wurde auch nichts... Alle Fixkosten sind weg... Kontostand ist mehr als passabel... Die letzten Zahlungen waren am... Was?! - Meine impulsive Ader wurde von einem Blitz durchfahren, wutentbrannt stand ich von meinem Stuhl auf, riss die Tür des Büros auf und ging an das Geländer. "Davi!", rief ich lautstark, am Ende der Halle hob er seinen Kopf. "Auf ein Wort!" Sofort ließ er alles fallen, kam in das Büro und schloss die Tür. Stumm stand er vor mir und sah mich erschrocken an, das schnelle Klopfen seines Herzens konnte ich hören.

"Kannst du mir das erklären?", ich drückte ihm die Mahnungen in die Hand.
"Oh...", brachte er hervor.
"Oh... Die Buchhaltung hat mich auch angerufen, dass die Rechnungen noch nicht bezahlt sind und die Unterlagen sind auch noch nicht im Büro angekommen.", fauchte ich ihn beinahe an.
"Ach Mist... ich wusste, dass ich was vergessen hatte...", Davi griff sich an die Stirn. "Der Ordner ist noch bei mir im Auto.", fügte er hinzu.
"Ja, da liegt er gut...", ich verdrehte die Augen.
"Tut mir ja leid, das Büro hatte ich total außer Acht gelassen, als du nicht da warst. Sonst hast du sowas ja vor deinem Urlaub immer erledigt.", mit einem Schulterzucken brachte er diesen Satz hervor, ein entsetzter Blick lag auf meinem Gesicht.
"Davi, wie soll das werden, wenn du hier die Leitung hast? Soll ich jedes Mal von Berlin hier her fahren, um die Buchhaltung wegzubringen? Du bist hier genauso ein wichtiger Bestandteil geworden, nur weil mein Name da draußen dran steht, heißt das nicht, dass ich mir für jeden Mist ist, hier den Stiefel anziehe.", mir fehlten die Worte, ich spielte schon mit dem Gedanken, das Thema Zweigstelle wegfallen zu lassen.
"Jetzt beruhig dich mal, du tust gerade so, als würde die Welt untergehen. Berlin ist doch noch gar nicht spruchreif.", winkte er ab.
"Hast du mir letzte Woche nicht zugehört? Da liegt der Vertrag, ich muss nur noch meine Unterschrift drunter setzen und dann bin ich Ende März hier weg.", ich verwies auf meinen Schreibtisch und seine Augen weiteten sich. "Ja, da kannst du mal sehen."
"In den ganzen Bürokram muss ich mich halt noch reinfitzen...", er atmete tief aus.
"Du hast auch auf dem Schirm, dass ich ab Januar auf dreißig Stunden runtergehe, damit ich mich noch um den ganzen Mist drumherum kümmern kann."
"Bitte?"
"Das habe ich alles vor Wochen mit dir abgesprochen, was ist denn nur los mit dir? Fühlst du dich der Sache nicht gewachsen?"
"Was? Doch natürlich, ich schaffe das schon."
"Gut, wir werden uns im neuen Jahr zusammensetzen und ich werde mich nach und nach aus dem Büro zurückziehen. Bring mir jetzt bitte den Ordner und ich überweise gleich die offenen Rechnungen.", stumm verließ er mein Büro, holte den Ordner mit den Unterlagen der Buchhaltung und mit einem Kopfschütteln schloss ich hinter ihm die Tür.

Aus meiner Handtasche nahm ich den IQOS, um schnell eine zu rauchen. Anschließend legte ich den Vertrag von Herrn Findeisen beiseite, setzte mich an die Überweisungen und schrieb das Praktikumszeugnis. - Da muss ich morgen an meinem freien Tag auch noch in die Kanzlei fahren. - Über den kleinen Bluetooth-Lautsprecher startete ich meine Lieblingssongs und ließ die Zeit komplett außer Acht.

"Ich werd' immer rot
Wenn ich an dich denke
Nicht weil ich dich so mag
Also nur ein bisschen..."

- 18:06 Uhr - "Endlich...", stöhnte ich auf und schaltete den Computer aus. Mein Blick schweifte durch das Büro und blieb bei dem kleinen dekorierten Kunstweihnachtsbaum hängen; ein leichtes Lächeln huschte über meine Lippen. Ich tippte zweimal schnell auf den Bildschirm meines Handys und sah zwei verpasste Anrufe von Lukas sowie mehrere Nachrichten von ihm; um wirklich ungestört zu sein, hatte ich den Ton ausgeschaltet. Ohne die Nachrichten zu lesen, steckte ich das Handy in meine Handtasche, hob sie vom Boden an und verließ mein Büro. Ich schaltete das Licht aus, schloss die Werkstatt ab und fuhr nach Hause, um mich umzuziehen. Auf dem Weg machte ich Halt beim naheliegenden Lebensmittelmarkt und kaufte noch ein paar Adventskalender. Zu Hause nahm ich diese mit hoch, bis auf einen. Schnell zog ich mich um, setzte mich wieder in meinen Wagen und fuhr los. Unterwegs warf ich die Buchhaltungsunterlagen mit einem schnell geschriebenen Anschreiben in den großen Briefkasten der Kanzlei.

Wer Weiß - 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt