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POV: Ena

"Ich bin so dankbar, dass du das machst.", sagte ich zu Jessica, nachdem wir in den Transporter eingestiegen waren.
"Keine Ursache, Maus... Aber das ist jetzt erstmal dein letzter Umzug, oder?", lachte sie leicht.
"Tut mir leid, ich wusste ja nicht, dass ich nach eineinhalb Jahren wieder aus der Wohnung ausziehe.", verlegen kratzte ich mich am Hinterkopf.
"Hey... Du machst dir doch jetzt keine Gedanken wegen des Kommentars, oder?", fragte Jessica.
"Nein, aber du weißt auch, dass ich eigentlich nicht wieder so schnell mit jemanden zusammenziehen wollte.", ich ließ das Fenster auf der Beifahrerseite herunter und nahm eine Zigarette aus der Schachtel.
"Und du wusstest, dass ich letztes Jahr froh war, erstmal allein zu sein. Von meinem bevorstehenden Umzug mal ganz abgesehen.", Jessica sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an und startete den Motor. Lächelnd schüttelte ich den Kopf und atmete den Rauch aus.

"I live for the applause, applause, applause
I live for the applause-plause, live for the applause-plause, live for the-
Way that you cheer and scream for me
The applause, applause, applause..."

Vor dem großen Tor der Einfahrt hielt Jessica an, damit ich es ganz öffnen konnte. Rückwärts fuhr sie den Transit in die Einfahrt und Tim kam mit Lukas in den Vorgarten. Wir begrüßten unsere Partner mit einem Kuss. "War das dann alles?", fragte Lukas und ich stimmte zu. "Danke, dass ihr das zum Rasttag mitmacht.", sagte ich erleichtert und nahm den ersten Karton heraus. "Keine Ursache, ich habe gehört, es gibt Kuchen.", lachte Lukas. Jessica stieß ihm leicht in die Seite. "Schatz, es gibt wichtigere Dinge als Kuchen.", lachte sie und schüttelte mit dem Kopf. "Nenne mir bitte eine Sache, die wichtiger ist.", mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie an. Tim nahm sich eine Kiste von der Ladefläche und drückte ihm diese in die Hände. "Arbeiten, mein Lieber!"

Gegen 15:30 Uhr waren wir mit dem Verräumen fertig. Mein Bett und mein Kleiderschrank wurden zu den neuen Möbeln in Tims Gästezimmer; laut seiner Aussage hatten die alten Möbel ausgedient. Ebenfalls hatten zwei Kommoden und zwei Regale ihren Platz gefunden. Diese hatten wir bereits am Vortag nach Bielefeld gebracht, genauso wie die ersten Kisten.
Tim, Lukas und Jessica hatten nach getaner Arbeit im Wohnzimmer auf dem Sofa Platz genommen und ich bereitete den Kaffee in der Küche zu. Aus dem Kühlschrank nahm ich die Platte mit dem Kuchen und stellte sie auf dem großen Couchtisch ab. "Siehst du, Mäuschen... Hatte ich recht oder hatte ich recht?", sagte Lukas lachend zu Jessica. "Ich wiederhole mich nur ungern.", sie streckte ihm die Zunge heraus und ein kurzes Gelächter hallte durch den Raum. "Schatz, ich gehe nur mal kurz ins Bad, könntest du dann vielleicht den Kaffee aus der Maschine holen?", sagte ich zu Tim und verschwand im Badezimmer.

Als das Wasser aus dem Hahn über meine Hände lief, vernahm ich das Klingeln an der Tür. "Ich geh' schon, mach' du erstmal in der Küche fertig.", hörte ich Jessica sagen und ihre Schritte am Badezimmer vorbeigehen. Ich trocknete meine Hände am Handtuch und öffnete die Tür, um in den Flur zu treten, mein Blick ging in die Richtung der Eingangstür. "Mama? Papa? Was macht ihr hier?", fragte ich mit geweiteten Augen, Jessica sah mich fragend an. "Ihr kommt doch nie ohne Anmeldung.", fügte ich an und Tim trat zu mir, in den Flur. "Stören wir etwa, wir wollten uns nur mal das neue Heim unserer Tochter ansehen.", sagte meine Mutter ausdruckslos, hinter ihr stand mein Vater mit aufeinander gepressten Lippen.

POV: Jessica

Stille erfüllte den Raum und unangenehme Kälte lag in der Luft. Das Kaffeetrinken war beendet und ich lief in den Flur, um meine Jacke von der Garderobe zu holen, um auf der Terrasse eine zu rauchen.
Ich steckte mir den Glimmstängel an den Mund und zündete ihn mit dem Feuerzeug an. Zwei Züge hatte ich bisher genommen, als sich die Terrassentür öffnete und Elisa zu mir heraustrat.

"Na meine Liebe, wie geht es dir denn?", fragte sie und holte die Schachtel aus ihrer Jackentasche hervor.
"Soweit ist alles in Ordnung, wie geht es euch denn?", fragte ich höflich.
"Ich würde auch sagen, dass so weit alles in Ordnung ist.", Elisa zündete sich die Zigarette an und sah durch die Glasscheibe der Tür in das Wohnzimmer hinein.
"Wann ziehst du denn zu deinem Lukas?", ein recht perfider Unterton lag in ihrer Stimme und ihr Blick sprach für sich.
"Geplant ist erstmal, dass ich mir in Berlin eine eigene Wohnung anmiete. Ich warte aktuell noch auf den Mietvertrag, aber ich brauche einfach noch meine eigenen vier Wände.", sagte ich und nahm einen weiteren Zug.
"Wirklich sehr vernünftig, Jessica... Deine Entscheidungen sind wirklich sehr weise und dann auch noch so einen Partner an deiner Seite zu sehen, wirklich bemerkenswert. Ich bin stolz auf dich."
"Ähm...", ich zog meine Augenbrauen nach oben, stumm lachte ich, eher geschockt als amüsiert oder froh, über diese Worte.
"Hab ich dich jetzt in Verlegenheit gebracht? Das tut mir leid, aber du kannst wirklich stolz sein auf das, was du erreicht hast. Ich drücke dir auch für die Zukunft die Daumen und vor allem für die Zukunft mit Lukas.", sagte sie. Innerlich begann es in mir zu brodeln und mir kamen wieder die Worte meiner Mutter in den Sinn, als meine Eltern vor Silvester in Kufstein eingetroffen waren.
"Elisa, ist das eigentlich gerade dein Ernst?", meine Stimme war trocken, mein Tonfall streng und mein Blick eisern. Hinter ihr sah ich, wie sich die Tür zur Terrasse öffnete und Tim uns anblickte; hinter ihm standen Ena, Lukas und Frank.
"Was ist denn das gerade für ein Tonfall, meine Liebe?", Elisa stütze ihre Hände in ihre Hüften.
"Es tut mir wirklich leid, wenn ich mich jetzt im Ton vergreife, 'meine Liebe', auch wenn du die Mutter meiner besten Freundin bist. Ich kann mir verdammt gut vorstellen, dass sie solche Worte viel lieber von dir hören würde, als von irgendeiner anderen Person. Nur, weil dir ihre Entscheidungen nicht gerecht werden, musst du mir jetzt nicht in den Arsch kriechen, um dich besser zu fühlen. Nur, weil Tim, einer der liebsten und loyalsten Menschen, den ich kennenlernen durfte, dir nicht gerecht ist, musst du meinen Partner jetzt nicht anschmachten, in der Hoffnung, dass Ena sich auch so jemanden sucht. Jemanden, der in deinen Augen 'perfekt' ist. Wir haben alle unsere Ecken und Kanten, jeder macht Fehler, aber wir wissen auch damit umzugehen. Weißt du, dass ich meine Mutter lange nicht mehr so hart am Verzweifeln gesehen habe, wie an dem Tag, als sie vor Silvester im Ferienhaus ankamen. Weißt du, dass sie sich wahrscheinlich mehr Gedanken um Enas seliges Wohl macht, als du... Ihre eigene Mutter, die nur sehen will, was sie für rich...", Elisas flache Hand traf mein Gesicht und ein stechender Schmerz machte sich auf meiner Wange breit. Lukas kam direkt zu mir gelaufen und zog mich an sich heran.
"Ist das gerade dein scheiß Ernst?", Ena schrie ihre Mutter an, Tim sah noch immer geschockt auf das Bild, welches sich in seinem Garten zeigte.
"Frank... lass uns gehen, auf so ein Niveau will ich mich gar nicht erst herablassen.", sagte Elisa hochnäsig und ging auf die Tür zu.
"Du kannst fahren, ich habe mich auf einen Nachmittag mit meiner Tochter und meinem Schwiegersohn eingestellt." 

Wer Weiß - 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt