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Die Stufen, die hinunter ins Erdgeschoss führten, knarzten leise unter meinem Gewicht, als ich am nächsten Morgen mein Schlafzimmer verließ. Durch ein Fenster konnte ich sehen, wie die Sonne am Horizont aufging und alles in einen warmen Orangeton tauchte. 

Ich fühlte mich, als wäre ich von einer Pferdekutsche überrollt worden. Die ganze Nacht hatte ich mich von einer Seite auf die andere gewälzt, wobei mir Grell's Worte nicht aus dem Kopf gegangen waren. Tief in mir sehnte sich der Shinigami danach die Sense zur Hand zu nehmen und sich um ein paar Seelen zu kümmern, doch hatte ich diesen Drang seit langer Zeit erfolgreich unterdrückt und hatte nicht vor, jenem wegen meinem Schützling nachzugeben. 

Den Kopf schüttelnd trottete ich zu meiner kleinen Küche und setzte neues Teewasser auf. Während dieses sich erhitzte, öffnete ich das kleine Fenster und zog meinen Morgenmantel enger um mich, als mich die lauwarme Morgenluft streifte. Von weitem konnte ich ein paar Vögel zwitschern hören, weshalb sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen legte. Dies war definitiv der beste Weg in einen neuen Tag zu starrten. 

Das fertig erhitzte Wasser zog meine Aufmerksamkeit auf sich und ich machte meinen Tee fertig, bevor ich mich an meinen kleinen Küchentisch setzte und die darauf stehende Keksdose zu mir heranzog. 

Drei Schluck Tee, einen Keks. Aus dem Fenster gucken. Die gleiche Prozedur von vorn. 
Nachdem ich mein Frühstück beendet hatte, schloss ich die Keksdose wieder und stellte sie auf ihren ursprünglichen Platz zurück, bevor ich mich um meine Tasse kümmerte und anschließend wieder die Treppe nach oben nahm. 

Dort schloss ich das geöffnete Fenster und begann meine Decke auszuschütteln und sie ordentlich auf mein Bett zu legen. 
Hätte man mir vor Jahren gesagt, dass ich als Shinigami, die an sich zwar Schlaf brauchten, jedoch mit wenigen Stunden davon auskamen, freiwillig lang schlafen würde, hätte ich ihn ausgelacht und gefragt, ob er eins mit der Sense übergezogen bekommen hatte. Doch so schnell konnten sich Zeiten ändern. Hier war ich nun, lebte das unendliche Leben eines Shinigami in der Menschenwelt, weit abgeschieden von jenen, die mir noch am Herzen lagen. 

Mein Blick glitt zu meinem Nachttisch. 

Vorsichtig öffnete ich dessen Schublade und holte das kleine Kästchen, welches sich darin befand, heraus. Mit diesem setzte ich mich auf mein Bett und hob vorsichtig den Deckel ab. 

In dem Kästchen war nicht viel. Meine Todesliste, darauf ein rubinrotes Spitzentuch, ein getrocknetes und gepresstes Vergissmeinnicht, sowie ein kleines Bündel von Briefen, welche mit einem Siegel, welches eine Gartenschere zeigte, einmal verschlossen waren. Ich lächelte. Diese Dinge waren neben meiner Sense die einzigen Gegenstände, die ich mitgenommen hatte als ich die Shinigami-Akademie verlassen hatte. 

Ich lächelte, als ich vorsichtig darüber strich. Grell, Ronald und William; die Einzigen, die ich noch hatte. Sie waren meine Familie und ich würde alles tun, um sie in Sicherheit zu wissen. 

Meine Gedanken wanderten zurück zur Campania. Es gab nur eine Möglichkeit, bei welcher so viele Menschen sterben konnten. Das Schiff musste sinken. Im Idealfall bei Nacht, da das Salzwasser dann so kalt sein würde, dass man in diesem nicht lang überleben konnte. Doch warum würde sie sinken?

Ich biss mir auf die Lippen. Ronald und Grell waren erfahrene und gut ausgebildete Shinigami - dafür hatte ich gesorgt, als ich sie unter meine Fittiche genommen hatte. Doch was, wenn etwas passieren würde, worauf ich sie nicht vorbereitet hatte?

Ich schüttelte den Kopf.

"Sie sind alt genug!", schalt ich mich selbst und wollte das Kästchen schließen, als mir etwas anderes ins Auge stach. 

Mit zusammengezogenen Augenbrauen nahm ich meine Todesliste heraus und blätterte durch sie. Noch mehr Namen, die sich hinzugefügt hatten. Und sie alle würden am gleichen Ort sterben: auf der Campania. 

Ich stand auf. Wie kam das zustande? 

Ich schüttelte den Kopf und warf die Liste aufs Bett. Ich reagierte über. Vermutlich waren es die gleichen Namen wie gestern und ich bildete mir das alles nur ein. Meine Gedanken und meine Sorge um Grell und Ronald spielten mir einen Streich. Oder?

Erneut verließ ich mein Schlafzimmer und eilte die Treppe nach unten, als könnte ich so die Gedanken an die Campania aus meinem Kopf verbannen und dort oben einsperren. 

Doch daraus wurde nichts. 

Denn als ich in mein kleines Wohnzimmer trat, war das Erste, worauf mein Blick landete, Nichts geringeres als meine Sense, noch immer in der Form eines Gehstockes.
Verwirrt sah ich sie an. Wie kam sie hierher? Sonst stand sie doch im Vorsaal im Regenschirmständer?

Als ich näher heran trat, fiel mir der kleine rosane Zettel auf, der neben der Sense lag.

Bitte, Mum-Novalee

Es gab nur eine Person, die mich so nannte. 

"Verdammt seist du, Grell Sutcliff!", knurrte ich, bevor ich abermals nach oben in mein Zimmer eilte. Dort öffnete ich meinen Kleiderschrank und holte eine Kiste, welche seit Jahren schon verschlossen auf dessen Boden stand, hervor und stellte sie auf meinem Bett ab. Dicke Staubflusen wirbelten dabei auf, weshalb ich niesen musste.

Mit zittrigen Händen öffnete ich die Kiste. Ein Gefühl von Aufregung und Nervosität durchfuhr mich als ich auf meine Kleidung hinab sah, die ich als aktive Shinigami getragen hatte.

Keine zehn Minuten später stand ich im Vorsaal meines kleinen Häuschens. Sämtliche Fenster waren verschlossen, all meine Kekse, die ich noch vorrätig hatte, befanden sich in einer kleinen Tasche in meinem Mantel. 

"Du schaffst das, Novalee!", flüsterte ich mir selbst Mut zu und sah in den kleinen Spiegel. Eine Shinigami mit verstumpften, fast menschlich wirkenden grünen Augen sah mir entgegen. Anders, als die anderen Shinigami, trug ich keine Brille. Ich neigte zwar, wie jeder Shinigami, zur Kurzsichtigkeit, jedoch hatte ich vor vielen Jahren schon angefangen, mich mit einem Leben ohne Brille anzufreunden und fand mich somit hervorragend ohne sie zurecht. Zumal ich somit oft von Dämonen und Engeln unterschätzt worden war und genau das als einen Vorteil hatte nutzen können. Das man mich hinter meinem Rücken eine Abtrünnige nannte, war mir egal - war ich es doch gewöhnt.

Mein Blick glitt über meine schwarze Kleidung - bestehend aus einer schwarzen Bluse und einer schwarzen bequemen Hose - welche nur durch ein weißes Korsett etwas freundlicher wirkte-, über die hohen schwarzen Stiefel, den schwarzen Mantel, der sich von den Schultern bis zur Taille eng an meinen Körper schmiegte und sich anschließend weitete und über den Knien endete. In meiner linken Hand hielt ich meinen Gehstock. Auf dem Zeigefinger jener Hand stockte mein Blick. Der kleine silberne Ring mit dem Smaragd schmiegte sich an den Finger, als wäre er schon immer dort gewesen. Ein Geschenk und gleichzeitig ein Symbol, welches mich daran erinnerte, mein Vertrauen und meine Affektion nicht in zu viele Lebewesen zu stecken, wenn ich nicht wieder verletzt werden wollte. 

Eine Träne entfloh meinem Augenwinkel, als unweigerlich das Bild, wie ich in einem Moment alles verloren hatte, vor meinem inneren Auge erschien. Ich war, selbst nach all den Jahren, nicht bereit, dieses Gefühl erneut zuzulassen. 

Erst, nachdem Grell, Ronald und William auf die Akademie gekommen waren, hatte ich gelernt, wieder Shinigami in mein Leben zu lassen und das war die beste Entscheidung gewesen, die ich zu diesem Moment hätte treffen können. 

Hätte ich sie nicht getroffen, wer weiß, ob ich heute noch hier sein würde.

✔︎|𝐤𝐨𝐬𝐚𝐦𝐞Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt