"Die Entscheidung, die ich damals getroffen habe, zog nicht gerade kleine Folgen mit sich. Die Anderen, die in meinem Alter waren, begannen auch mich fertig zu machen. Die alten Menschen in unserer Gemeinde fragten mich, ob ich den Verstand verloren hätte, mich mit dem Sohn des Bestatters anzufreunden.
Doch das war mir egal. Das Einzige, was zählte, war unsere Freundschaft. Wir wussten immer, wie es dem Anderen ging. Wir wussten immer, was der Andere brauchte. Wir kannten uns besser als sonst jemand auf dieser Welt, jede freie Minute verbrachten wir zusammen. Ich brachte ihm Dinge wie Lesen, Schreiben und Nähen bei, die ich zuvor von meiner Mutter und meinem Vater gelernt hatte. Er zeigte mir, wie er viele der Särge aus dem Laden seines Vaters schleifte und sie mit Schnitzereien verzierte. Er zeigte mir, wie ich Pflanzen in der Natur unterscheiden konnte, wie man giftige Pilze und Ungiftige unterschied und nahm mich sogar einmal mit in den eigentlichen privaten Teil des Ladens seines Vaters, wo er mir zeigte, wie man sich um einen Toten kümmerte und diesen für seinen letzten Weg herrichtete.
Wir wurden unzertrennlich, wir kannten jedes noch so kleines Geheimnis, jeden noch so unbedeutenden Wunsch oder Traum. So erzählte ich ihm davon, dass ich, wenn ich alt genug war, die Gemeinde verlassen wollte, um weit weg zu gehen, die Welt zu sehen und mir irgendwo ein eigenes Leben aufzubauen.
Er erzählte mir von seiner Familie. Von seinen neun älteren Geschwistern, von denen sechs im ganzen Land verstreut lebten, die anderen drei jedoch schon als Kleinkinder verstorben waren. Auch erzählte er mir von seinem Vater. Er erzählte mir das, was jeder vermutete, aber keiner aussprach. Er erzählte mir, was für ein Monster sein Vater war. Das er ihn bis spät in die Nacht arbeiten ließ und ihn, sollte er einschlafen, heiße Kohlen in die Handflächen legte und ihm befahl, sich nicht zu rühren. Wie er die Kunden manchmal selbst herrichten musste und Schläge bekam, wenn er nicht rechtzeitig fertig wurde.
Das, was er an seinem Vater jedoch am Meisten hasste, war die Schuld, die dieser mit sich trug. Es war nicht nur einmal, dass er ihm, natürlich nur in meinem alleinigen Beisein, vorwarf, ihn kurz nachdem er gerade einmal ohne Hilfe hatte stehen und laufen können, zu einem Erwachsenen gemacht hatte, ohne ihm eine wahre Kindheit zu gewähren.
Freude, Fröhlichkeit, ja sogar das Lachen hatte er ihm verboten und wenn er ihn einmal beim kleinsten Lächeln erwischte, bekam er Hausarrest.Damals schwor er mir, dass, wenn er selbst einmal Kinder haben würde, er sie abgöttisch lieben und ihnen die bestmögliche Kindheit ermöglichen würde. Er erzählte mir, wie er seinem Sohn beibringen würde, sich wie ein wahrer Gentleman zu verhalten und wie er seiner Tochter jeden Wunsch von den Lippen ablesen würde."
Ein trauriges Lächeln legte sich auf Novalees Lippen. Sie sah den von ihr beschriebenen Moment genau vor sich. Wie sie mit ihm auf der Steinbank auf dem Friedhof gesessen hatte, wie sie sich erzählt hatten, wie sie sich ihre Zukunft vorstellten.
Grell, Ronald und William sahen gespannt zu ihrer Mentorin. Noch nie hatten sie sie so erlebt, wie sie sie gerade vor sich sahen. Es wirkte, als wäre sie nur körperlich hier bei ihnen und mental ganz in ihrer Lebzeit als Mensch.
Novalee blinzelte und sah zu ihren Schützlingen. Realisierend, wie viele eigentlich unnötige Details sie ihnen erzählt hatte, spürte sie, wie sich eine beschämende Röte auf ihre Wange legte.
"Entschuldigt, ich bin abgeschweift-"
"Ist in Ordnung, Ma'am. Wir hören dir zu!", beruhigte Ronald die Schwarzhaarige mit einem warmen Lächeln, weshalb die Shinigami erleichtert aufatmete, bevor sie fortfuhr.
"Je älter wir wurden, desto weniger Zeit hatten wir zusammen. Meine Eltern begannen schnell nach potentiellen Ehepartnern für mich zu suchen und auch mein guter und einziger Freund wurde immer mehr in das Geschäft seines Vaters einbezogen. Das er dies eigentlich gar nicht wollte, war seinem Vater egal.
Eines Nachts, als ich mich gerade bettfertig gemacht hatte, kam er. Er warf einen Stein gegen mein Fenster und ich ging natürlich nachsehen. Als ich ihn unten stehen sah, wusste ich gleich, was er vorhatte. Ich nickte ihm nur zu und deutete ihm zu warten und keine fünf Minuten später kletterte ich aus dem Fenster. Unten angekommen nahm er mir meine kleine Tasche ab und griff nach meiner Hand. Ich weiß es noch wie heute. Leichter Regen fiel auf uns hinab und er sah mich mit einem entschlossen Ausdruck in seinen Augen an. 'Lass uns von hier verschwinden, Nova!' sagte er zu mir.
Und so machten wir uns daran, so schnell es ging das Dorf zu verlassen. Doch wusste keiner von uns beiden, dass sein Vater ihn mitbekommen hatte und ihm gefolgt war. Er konfrontierte uns lautstark aus dem Nichts, lenkte somit sämtliche Aufmerksamkeit derer, die noch wach waren, auf uns. In Scharen kamen sie aus ihren Häusern, kamen und begafften, wie der Bestatter und sein Sohn begannen, sich zu streiten. Unschöne Dinge fielen in ihrem Streit, bis sein Vater das Maß überschnitt und ihn schlug. Ich weiß noch, wie ich regungslos dastand und mich nicht rühren konnte.
Meine Mutter, die man geholt hatte, versuchte mich dort wegzuziehen. Doch alles, worauf ich achten konnte, war mein bester Freund, der vor allen von seinem eigenen Vater verprügelt wurde.Meine Mutter... Ich glaube, sie hat mich, kaum, dass sich mich nach Hause geschleift hatte, angeschrien. Mein Vater, der alles stumm beobachtet hatte, war nicht eingeschritten. Ich weiß nicht mehr, was Mutter zu mir sagte und um ehrlich zu sein war es mir egal. Bei der nächstbesten Möglichkeit, die sich mir bot, rannte ich weg.
Den nächsten klaren Gedanken fassen konnte ich erst, als ich auf der alten Steinbank auf dem Friedhof saß. Ich weiß nicht, wie lang ich dort saß, aber irgendwann hörte ich, wie schwerfällige Schritte auf mich zukamen, bis sich mein Freund neben mich setzte.
Er war blutverschmiert. Seine sonst hellen Haare waren von Blut verklebt, über sein Gesicht zog sich ein hässlicher Schnitt, den ihn sein Vater mit einem Dolch oder etwas ähnlichem verpasst hatte. So wie er lief, wusste ich, dass er sich Bein oder Knöchel mindestens verstaucht, wenn nicht sogar komplett gebrochen hatte und an der Art, wie er atmete und saß, wusste ich auch, dass seine Rippen nicht unbeschadet davongekommen waren.
Ich entschuldigte mich bei ihm, dafür, dass ich nicht für ihn eingetreten war. Doch er nahm nur meine Hand, drückte sie und sagte mir, dass ich mich nicht darum kümmern sollte. Er sagte mir, dass er mich nur noch einmal sehen würde und erst da wurde mir bewusst, dass dies unsere letzte Begegnung sein würde. Ich konnte es in seinen Augen lesen, was er vorhatte. Wir beide wussten, das er sonst von seinem Vater umgebracht werden würde. Weg zu gehen war keine Option, dafür waren seine Verletzungen zu tief und ich wusste, dass auch meine Familie ihm keine Zuflucht gewähren würde."
Novalees Stimme begann zu zittern und eine einzelne Träne kullerte ihr über die Wange. Besorgt sahen sich Grell, Ronald und William an.
"Wie.. wie ging es aus?", fragte Grell nach einiger Zeit der Stille zögerlich, versuchte so, es ihrer Lehrerin etwas einfacher zu machen.
Novalee blickte hinüber zum Fenster, beobachtete, wie der Regen ganz sanft gegen es prasselte, so, wie er es vor all den Jahren getan hatte, als sie und ihr Freund zum letzten Mal auf der Bank gesessen hatten.
"Sie fanden uns am nächsten Morgen. Er in meinen Armen mit einer blutigen Wunde direkt über seinem Herzen, mich, erfroren durch die Kälte, die die Nacht mit sich gebracht hatte. Der Regen war unser Zeuge gewesen. Er hatte sich in seinen Umhang und in mein Nachtkleid gesaugt, hatte unsere Tränen versteckt und unsere letzten Worte füreinander verschluckt, sodass nur wir diejenigen waren, die sie hatten hören können."
DU LIEST GERADE
✔︎|𝐤𝐨𝐬𝐚𝐦𝐞
Fanfiction"𝐃𝐚𝐬 𝐰𝐞𝐜𝐤𝐭 𝐄𝐫𝐢𝐧𝐧𝐞𝐫𝐮𝐧𝐠𝐞𝐧... 𝐍𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐰𝐚𝐡𝐫, 𝐦𝐞𝐢𝐧𝐞 𝐥𝐢𝐞𝐛𝐞 𝐍𝐨𝐯𝐚?" Alles, was Novalee wollte, war in Ruhe ihren Ruhestand genießen, weit abgeschieden von der Shinigami Gesellschaft. Doch als eine gute Freundin ihr v...