よん

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"Ma'am, denken Sie wirklich, dass-"

"Zweifeln Sie etwa, Ronald?", unterbrach Novalee Mabelle den jungen Studenten neben sich unwirsch und sah zu ihm hinüber. Der Shinigami schwieg für einen Moment, in welchem die Beiden weiterhin durch den langen Gang liefen. Das Einzige, was man hörte, waren ihre Schritte, begleitet von Novalee's Sense in Form des Gehstocks, welcher ihr beim Gehen half. Es war nun inzwischen ein gutes Jahrzehnt, vielleicht sogar mehr her, dass der Kampf stattgefunden hatte und noch immer litt die Shinigami an den resultierenden Wunden, Narben und Alpträumen, die der Kampf hinterlassen hatte. 

"Ich zweifle nicht an Ihnen, Ma'am. Es ist nur-"

Novalee sah hinüber zu Ronald, beobachtete, wie er hilflos mit den Händen in der Luft herumfuchtelte, aber nicht die Worte fand, die er nutzen wollte. Sie seufzte. 

"Sie müssen sich nicht daran halten, Ronald. Solang Sie die Aufgabe erfüllen ist es mir egal wie Sie sie lösen. Als Shinigami wird man Ihnen später nicht ankreiden, ob Sie sich an die Regeln gehalten haben oder nicht! Solange Sie sich nicht aktiv in das menschliche Leben einmischen und eine Person absichtlich umbringen, ist alles in Ordnung!"

Ronald Knox sah zu seiner Mentorin und eilig wandte jene den Blick von ihm ab. Obwohl er es nicht aussprach, wusste er, dass sie ihm dies nicht nur gesagt hatte, damit er seine nächste Prüfung bestehen würde. Sie hatte es ihm gesagt, damit er nicht die gleichen Fehler machen würde, die sie einst gemacht hatte. Ronald wusste nicht, was damals vorgefallen war; er wusste nur, dass Novalee sich selbst dafür die Schuld gab und alles tat, damit ihre Schüler nicht so enden würden, wie sie geendet war. 

Die Stille, die sich zwischen Ronald und der älteren Shinigami etabliert hatte, wurde langsam unangenehm, jedoch wusste Novalee beim besten Willen nicht was sie hätte sagen können, um jene zu beenden. Ronald schien das zu merken, denn im nächsten Moment setzte er zum Sprechen an.

"Sie geben mir also indirekt den Hinweis, die Regeln lieber zu brechen, als sie zu befolgen?"

Novalee sah erneut zu ihm. 

"Jetzt, wo Sie es aussprechen... ja. Das habe ich. Ich hoffe, dass das kein Problem darstellt?"

Eilig schüttelte Ronald den Kopf.

"Ganz und gar nicht, Ma'am!"

Erneut nickte Novalee, bevor sie stehen blieb. Der junge Shinigami neben ihr hielt ebenfalls an und sah fragend zu ihr.
Inzwischen befanden sie sich in einer der großen Hallen, welche die einzelnen Hörsäle und Anlagen für die Studenten miteinander verbanden. Von allen Seiten kamen die jungen zukünftigen Shinigami, doch jeder von ihnen machte einen großen Bogen um Ronald und die Professorin. 

Novalee hatte schon so manches Gespräch mitbekommen, in welchem sich darüber beschwert wurde, dass sie zu streng sei und die Studenten zu sehr striezen würde. Sie beschwerten sich, dass sie nicht so umgänglich war, wie sie es sich unter einem der beiden legendären Shinigami vorgestellt hatten. 
Zugeben, Novalee striezte ihre Schüler wirklich. Doch nur aus dem Grund, dass sie nicht die Fehler machen würden, die sie selbst gemacht hatte. Das sie auf gemeine Attacken vorbereitet waren und sich zu wehren wussten. Novalee wollte sicherstellen, dass die jungen Reaper für das, was sie im Außendienst erwarten würde, gewappnet waren. Doch dies wusste keiner.

Die Einzigen, die von Anfang an nicht so dachten und die Shinigami nach jeder Vorlesung und jedem Training mit Fragen löcherten und alles wissen wollten, waren William T. Spears und Ronald Knox. Sie waren es, die ihr nicht von der Seite wichen, wenn sie wieder einen mentalen Rückschlag hatte. Sie wussten zwar, genau wie die anderen, nicht, was genau passiert war, blieben jedoch bei ihr.
Jeder hatte von dem großen Kampf zwischen den legendären Shinigami, wie die Reaper-Welt ihn und Novalee genannt hatte, gehört, doch niemand wusste, was genau vorgefallen war.
Alles, was sie hatten, war eine mental instabile Shinigami, die den Außendienst quittiert und sich hier an der Akademie niedergelassen hatte. Von ihrem Partner wusste kaum jemand etwas. Die einen munkelten, dass er tot sei, andere waren der Überzeugung, dass er ein Abtrünniger war.

Doch das schien weder William noch Ronald zu stören. Sie waren da, wenn es Novalee nicht gut ging. Sie hatten kein einziges Mal gefragt, was genau passiert war.
Sie waren da, weil sie da sein wollten.
Die beiden taten es nicht, weil sie sich einen Vorteil erhofften. Sie waren da, weil niemand für sie dagewesen war, als sie selbst noch richtig gelebt hatten. 

"Danke... Ronald. Sie können gehen." 

Ronald nickte und rückte seine Brille zurecht.

"Einen angenehmen Tag noch, Ma'am!"

Novalee nickte und sah zu, wie er sich unter die Meute mischte und verschwand. 

Sich ein Seufzen verkneifend wandte sich Novalee nach links und lief mithilfe ihres Gehstockes in Richtung ihrer Räume. Die Studenten machten ihr Platz, wenn sie in ihr Sichtfeld kam, doch inzwischen hatte Novalee angefangen, dies zu ignorieren und einfach so schnell wie möglich zu passieren, um endlich allein sein zu können. 

❀☯︎❀

"Ma'am?"

Novalee blickte auf und sah Ronald vor sich stehen. Seine blonden Haare standen ihm - wie immer - in alle Richtungen ab. Jedoch schienen seine grünen Augen heute förmlich zu strahlen, was wohl daran lag, dass er seine Abschlussprüfung bestanden hatte.

"Was kann ich für Sie tun, Ronald?"

Ronald schüttelte den Kopf.

"Ich wollte Ihnen nur etwas geben. Zum Dank, dass Sie immer meine Fragen beantwortet haben und so geduldig geblieben sind!"

Mit diesen Worten hielt er der Professorin einen Umschlag hin.

Überrascht sah Novalee ihn an. Das hatte sie wirklich nicht erwartet. Vorsichtig nahm sie den Umschlag entgegen und öffnete ihn.

In die Hände fiel ihr eine kleine Karte. In ihr ein getrocknetes und gepresstes Vergissmeinnicht. 

Neugierig las Novalee die Worte, die in der Karte standen.

Für immer an Ihrer Seite wie ein Vergissmeinnicht* 
Danke für alles!

Novalee spürte, wie ihr eine Träne über die Wange rollte. Eilig wischte sie sie weg und stand auf. Erschrocken sah Ronald die Professorin an und wollte scheinbar zu einer Entschuldigung ansetzen, jedoch zog sie ihn in ihre Arme, was ihn augenblicklich verstummen ließ. Merklich überfordert erwiderte er die Umarmung. 

"Ich danke Ihnen, Ronald Knox!"

Vorsichtig löste sich Novalee und lächelte vorsichtig - welches sofort von Ronald erwidert wurde. Es kam nur selten vor, dass sich die Schwarzhaarige so öffnete und Ronald war froh, dass sie es gerade vor ihm tat.

"Miss Mabelle?"

Ronald und Novalee zuckten auseinander und sahen zur Tür des Büros. Novalee's ältester Student, den sie wie Ronald unter ihre Fittiche genommen hatte und der zu ihr hielt; William T. Spears, stand in ihr und sah sie an.

"William. Was ist los?", fragte Novalee und trat einen Schritt auf ihn zu. Ihr gefiel nicht, wie aufgewühlt er wirkte. William T. Spears war niemals und unter gar keinen Umständen aufgewühlt.

"Einer der Neulinge macht... große Probleme!"

Novalee zog die Augenbrauen zusammen. Es war nichts Neues, dass manche von den Shinigamis, die gerade erst das Leben als Menschen verlassen und als Shinigami zurück zum Leben gekommen waren, des Öfteren zu Verwirrung und Ähnlichem neigten und gern einmal Chaos an der Akademie auslösten.

"Und?"

"Ich glaube, es ist das Beste, wenn Sie sich darum kümmern, Miss Mabelle!"

Die Shinigami zog die Augenbrauen hoch, griff aber nach ihrer modifizierten Sense. Etwas an der Art, wie William redete und vor ihr im Türrahmen stand, signalisierte ihr, dass mit einem der Neulinge definitiv etwas ganz und gar nicht stimmte.

"Wie lautet der Name?"

"Grell Sutcliff."

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Vergissmeinnicht symbolisieren unter anderem Treue gegenüber Personen, die man schätzt/liebt (wobei hier ersteres der Fall ist)

✔︎|𝐤𝐨𝐬𝐚𝐦𝐞Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt