じゅうろく

147 10 0
                                    

Als wäre sie in einer Trance, starrte Novalee aus dem Fenster, beobachtete wie die kleinen Regentropfen an ihm hinunterrannen und schließlich im Rahmen versickerten. Ihre Hand hatte sich krampfhaft um das obere Ende ihres Gehstocks geschlossen.

"Ma'am?"

Ganz zaghaft erklang Ronalds Stimme und langsam blinzelte die schwarzhaarige Shinigami, bevor sie den Blick löste und sich langsam und schwerfällig umdrehte. Alle drei waren sie da. Ronald Knox, William T. Spears, der inzwischen als offizieller Shinigami arbeitete, und Grell Sutcliff, die überraschender Weise vollkommen still auf dem Sofa saß und zu ihrer Mentorin sah. 

Ein kleines, kaum wahrzunehmendes trauriges Lächeln umspielte Novalees Mundwinkel, während sie auf ihre drei Schüler zutrat.

"Bitte verzeiht, ich-"

"Du musst dich nicht entschuldigen, Miss Mabelle. Wir verstehen das!", unterbrach William sie, jedoch mit einer für ihn untypischen Wärme in der Stimme. Dankbar nickte Novalee auf seine Aussage hin, bevor sie sich langsam zwischen Grell und Ronald niederließ. Auch William, der bis eben nur mit verschränkten Armen dagestanden hatte, ließ sich gegenüber der drei Shinigami nieder und sah zu seiner Lehrerin. 

"Zuallererst.... Danke, dass ihr so schnell kommen konntet-"

"Jetzt rück schon mit der Sprache raus, Mum!", grätschte nun Grell dazwischen, die bis dato kein einziges Wort gesagt hatte und nur starr auf dem Sofa gesessen hatte. Vollkommen überstürzt war sie heute morgen von der Akademie aufgebrochen, als sie Novalees Brief erhalten hatte, in dem die Ältere sie gebeten hatte, zu ihrem privaten Haus zu kommen. 

Ähnlich war es auch Ronald und William gegangen. Während Ronald Grell gefolgt war, kurz nachdem auch er einen Brief mit derselben Bitte erhalten hatte, hatte William sämtliche Shinigami-Arbeit, die er an diesem Tag eigentlich hätte erledigen müssen, auf seinen Partner übertragen und war so schnell es ging aufgebrochen. 

"Warum sollten wir so unmittelbar herkommen? Also nicht, dass wir uns nicht freuen, aber diese Überraschung war doch ziemlich... untypisch für dich, Miss Mabelle!"

Novalee sah hinüber zu William, bevor sie einmal schwer seufzte. 

"Nach all den Jahren, die ich als aktive Shinigami und anschließend als Professorin gearbeitet habe, ist mir von vielen Fragen besonders eine überdurchschnittlich oft gestellt worden. Genau diese Frage habt auch ihr drei mir im Fortlauf unserer Bekanntschaft mindestens einmal gestellt. Und nach all dem, was ihr drei für mich, teilweise auch unwissentlich, getan habt, finde ich es nur fair, euch diese Frage zu beantworten."

Die drei jüngeren Shinigami tauschten verwunderte Blicke untereinander. Meinte Novalee das ernst? Würde sie nach all den Jahrzehnten ihr Schweigen brechen?
Alle drei wussten sie, das Novalee niemanden erzählt hatte, was aus dem legendären Duo geworden war. Niemand wusste, was aus ihrem Partner geworden war, außer, dass er die Shinigami-Welt verlassen und sich von seiner Art abgewandt hatte. Niemand wusste, weshalb es den großen Kampf zwischen den Beiden gegeben hatte. Das Einzige, was die drei wussten, war, dass es für Novalee ein privates, fast schon intimes Thema war. Sie sprach nie darüber, mit niemanden und unter keinen Umständen. 

"Mum, wir fühlen uns geehrt-", begann Grell zu sprechen.

"- aber wir wissen, dass Du dich damit nicht wohl fühlst!", beendete Ronald die Aussage der Rothaarigen. 

"Zudem" mischte sich nun auch William ein "ist es in Ordnung, wenn Du es uns nicht sagst. Wir verstehen und respektieren das!"

Gerührt lächelte Novalee, wobei sie nach Ronalds und Grells Hand griff und jene leicht drückte. 

"Ich weiß. Aber ich möchte, dass ihr es wisst. Ihr seid die einzige Familie, die ich habe!"

"Wenn das so ist... Werden wir zuhören!", sagte William, während er sich nach vorn beugte und seine behandschuhte Hand auf Novalees Knie legte, was die Schwarzhaarige mit einem kleinen Lächeln hinnahm. 

Einen letzten tiefen Atemzug nehmend, sah sie ihre drei Schützlinge an. Stolz durchzog ihren Körper und erneut fragte sie sich, wie sie so eine Familie verdient hatte. 

"Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann genau ich geboren wurde. Oder wo. Doch das ist eigentlich auch gar nicht wichtig.", begann sie zu erzählen. Aufmerksam lauschten die drei jüngeren Shinigami der Erzählung ihrer Mentorin und gleichzeitig Mutterfigur. 

"Das Früheste, an das ich mich erinnern kann, ist der Tag, an dem eine neue Familie in den Ort zog, in dem wir lebten. Ich weiß noch, dass sie am anderen Ende des Ortes lebten. Meine Mutter zwang mich, zusammen mit ihr und meinem Vater zu der neuen Familie zu gehen und sie willkommen zu heißen." Novalee schmunzelte bei der längst vergangenen Erinnerung.

"Ein Junge, vielleicht gerade einmal ein oder zwei Jahre älter als ich selbst und mit unfassbar blauen Augen, öffnete uns damals die Tür. Er fragte uns mit leiser Stimme, wer wir seien. Meine Mutter stellte uns vor und sagte ihm, dass wir ihn und seine Familie willkommen heißen wollten. Daraufhin rief der Junge nach seinem Vater."

Novalee verzog das Gesicht, als sie an den Vater des Jungen dachte. 

"Er war ein ekelhafter Mann, aber das verstand ich erst, als ich älter wurde. Er arbeitete als Bestatter bei uns im Dorf und stellte zudem die besten Särge im ganzen Land her. Sein Sohn musste ihm helfen. Zur Schule durfte er nicht gehen. Selbst, als wir beide fast erwachsen waren. 
Die anderen Kinder hänselten ihn oft, wann immer er zum Markt kam. Sie machten sich darüber lustig, dass er mit Niemanden sprach. Sie machten sich darüber lustig, dass sein Vater Bestatter war und dass er selbst Niemanden hatte.
Ich jedoch hörte immer nur zu, wenn sie wieder über ihn herzogen. Doch irgendwann hatte ich genug. Ich weiß nicht mehr, wie ich es getan hatte, aber ich brach dem Jungen, der ihn am Meisten schikanierte, die Nase.
Dafür erhielt ich mehrere Schellen und mehrere Wochen Hausarrest, aber das war es mir wert!"

Sowohl Novalee, als auch ihre drei Schützlinge mussten schmunzeln. 

"Als ich das Haus wieder verlassen durfte, ging ich zum Haus des Bestatters und fragte, ob sein Sohn da wäre. Seine Mutter, die mir die Tür geöffnet hatte, sagte mir, dass er auf dem Friedhof sei, irgendwo im Umkreis der kleinen Kapelle, von der man auf das Dorf hinuntersehen konnte. Ich bedankte mich und ging dorthin. 

Wie von seiner Mutter vermutet, fand ich ihn hinter der Kapelle auf einer alten steinernen Bank, von der man hinunter auf den zentralen Marktplatz unseres Ortes sehen konnte. Er saß dort mit einem kleinen Büchlein in der Hand und bekam mich erst gar nicht mit. Erst, als ich neben ihm stand und mich räusperte, bemerkte er mich. 

Er erschreckte sich und ließ sogar sein kleines Buch fallen. Ich hob es auf und hielt es ihm hin. 'Hallo', sagte ich zu ihm. 'Ich bin Novalee Mabelle'. Daraufhin nickte er, bevor er vorsichtig neben sich klopfte. 'Ich weiß, wer du bist', sagte er. 'Du hast dem Sohn der Schneiderin die Nase gebrochen'. Ich nickte stumm, während ich mich zu ihm setzte. An diesem Tag schworen wir uns, für immer füreinander da zu sein und einander zu beschützen."

Novalee schluckte leicht, was ihren drei Schützlingen natürlich nicht entging. Mit einer bösen Vorahnung sahen sie sich an. Sie wussten es nicht genau, aber alle drei spürten sie es, dass dieses Versprechen zwischen Novalee und dem Jungen brechen und für ihre Mentorin verheerende Folgen mit sich ziehen würde. 

✔︎|𝐤𝐨𝐬𝐚𝐦𝐞Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt