Kapitel 4

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Désirée

Ich führe Dylan rein, dann verschwinde ich, um Tina zu helfen. Wir bereiten den Gemeinschaftsraum vor.

„Schau mal, wir haben hier noch die alte Gitarre", höre ich Tina sagen.

„Al hat die doch immer gespielt", sage ich und erinnere mich an die Musikabende.
„Ihr habt immer tolle Duetts vorgetragen", meint sie. Al hat vor ein paar Monaten hier aufgehört, weil er mit seiner Frau auf Weltreise gehen wollte. Al ist in den Mittfünfzigern und hatte seiner Frau das schon vor ihrer Hochzeit versprochen. Er hat seit der Hochzeit gespart um das zu ermöglichen.


„Jetzt hat sich das auch erledigt. Immerhin haben wir hier zwei Promis", bemerke ich und setze dabei Promis in Anführungszeichen.

„Ich denke schon, dass wir Promis sind", höre ich von der Tür jemanden sagen. 

Und ich weiß, wer dieser Jemand ist. Dylan kommt mit Henry und Mrs. Harris in den Gemeinschaftsraum. Dylan bleibt vor Tina stehen und nimmt die Gitarre aus ihrer Hand. Er setzt sich auf ein Stuhl. Dann stimmt er die Gitarre. Seit wann kann dieser Kerl Gitarre spielen? Tina zuckt mit den Schultern und holt ein Schuhkarton.

„Schau mal Daisy, hier sind noch einige Songs", murmelt sie. „Oh, deine sind auch hier!", ruft sie. Oh nein! Sofort landen die Blicke von Dylan und Henry auf mir. Danke Tina, denke ich im Stillen.

„Du schreibst Songs?", will Henry wissen.

„Sie singt auch", sagt Tina breit grinsend. Ich. Hasse. Mein. Leben.

„Oh, wie wäre es, wenn du singst, und die Jungs spielen?", fragt Mrs. Harris. Ja klar, soweit kommt es noch.

„Nein, ich singe nicht." Nicht mit Dylan.

„Natürlich singst du, mein Kind. Du singst doch mir und Betsy immer etwas vor", sagt Mr. Brennan. Das ältere Paar kommt in Begleitung eines Pflegers in den Gemeinschaftsraum.
„Los, Daisy, gib dir ein Ruck", sagt Tina. 

Ist echt ein tolles Gefühl von so vielen Leuten überzeugt zu werden. Nicht. Ich verkneife mir ein Stöhnen.

„In Ordnung. Wer von euch übernimmt den Gesang?", frage ich.

Henry boxt Dylan auf die Schulter.

„Das kann er übernehmen. Ich spiele Gitarre", sagt Henry und löst sich von seiner Großmutter. Er sieht jetzt viel entspannter aus. War ja klar, dass es so kommt. Ich verkneife mir ein Augenrollen und setze mich hinter das Piano. Da ich in meiner Wohnung kein Platz dafür habe, habe ich die meisten Songs hier komponiert. Nach und nach füllt sich der Raum und Henry nimmt Dylan die Gitarre ab. Er setzt sich auf einen Hocker. Dylan nimmt neben ihm Platz. Ich kann immer noch nicht glauben, in was für einer Situation ich mich befinde. Vicky wird mir kein Wort glauben. Mein Herz klopft ziemlich stark, aber sobald meine Finger die Tasten berühren, werde ich automatisch ruhiger. Dann sehe ich Mrs. Harris an.

„Haben Sie einen Lieblingssong?", frage ich sie.

Sie grinst bis zu beiden Ohren.

„Neil Young, Only love can break your heart", antwortet sie. Der Lieblingssong von Mr. Brennan und seiner Frau. Gott, sei Dank habe ich das oft genug gesungen. Nur ist das ein Lovesong. Ich sehe Henry an.

„Kennt ihr den Song?"

„Klar, den haben wir oft genug gesungen", sagt er und zupft die ersten Saiten. Ich atme tief durch und meine Finger gleiten über die Klaviertasten. Ich werfe Dylan einen Blick zu. Er fängt zuerst an zu singen. Ich hasse es, das zu denken, aber er hat eine unfassbar schöne und warme Stimme. Klar, die von Noah ist großartig, aber Dylans Stimme eignet sich eher für Balladen. Beim Refrain falle ich mit rein. Meine Stimme ist im Gegensatz zu seiner Glockenklar. Und ich treffe alle Töne. Während ich singe, schließe ich meine Augen und meine Finger gleiten, als wäre es eine Routine, über die Tasten. In diesem Moment blende ich alles aus. Mrs. Harris mit ihrer Bitte, das Universum, welches mich hasst, Henry und sogar Dylan. Ich verliere mich in dem Song und als meine Stimme mit Dylans zusammentrifft, öffne ich meine Augen. Unsere Stimmen...Harmonieren. Und das ist auch ihm aufgefallen, denn er lässt mich nicht aus den Augen. Er steht auf und stellt sich neben das Piano. Ich lasse mich davon nicht beirren und spiele weiter. Singe weiter. Wenn ich mich in der Musik verliere, bin ich nur für mich und da kann mich auch ein gewisser Dylan Morton nicht verunsichern. Als der Song zu Ende ist, sehen uns alle stumm an. Mit großen Augen und einem zarten Lächeln auf den Lippen. Mrs. Harris hat sogar Tränen in den Augen. Ich sehe die Jungs an. Sie scheinen über diese Reaktion überrascht zu sein. Dachten sie, dass die alten Menschen auf die Füße springen und uns zu jubeln?

„Noch eins bitte", höre ich Mrs. Brennan flüstern. Heute hat sie einen ruhigen Tag und erinnert sich an alles. Wie könnte ich ihr das verweigern, wenn diese Tage immer seltener werden? Mr. Brennan sieht seine Frau zärtlich an. Ich wende mich lächelnd an das Piano und fange mit All of me an. Das ist ein beliebter Song unter unseren Senioren. Der Song ist langsam und sanft. John Legend ist auch ein großartiger Künstler. Und bei diesem Song brauche ich auch keine Begleitung auf einer Gitarre. Henry legt die Gitarre zur Seite und fordert seine Großmutter zum Tanz. Lächelnd steht sie auf. Mr. Brennan tanzt mit seiner Frau. So eine Liebe wünsche ich mir auch. Aber ein Mr. Brennan ist mir noch nicht begegnet. Ich weiß nicht einmal, ob es noch solche Männer gibt. 

Im Refrain fällt dann Dylan mit ein und sein Blick scheint meinen durchbohren zu wollen. Ich kann nichts in seinen blassblauen Augen lesen. Früher konnte ich es, jetzt nicht mehr. Jetzt will ich es nicht mehr.

„Das war wunderschön", höre ich Tina flüstern. Sie sieht aber dabei mich an. Sie fragt sich, warum ich so kalt gegenüber Dylan reagiere. Ich bin eine Person, die warmherzig und ohne Vorurteile auf Menschen zugeht. Aber bei Dylan? Niemals. Ich stehe auf und strahle die Senioren an.
„Wer hat Lust auf Bingo?"

Die Menge ist begeistert. Tina leitet den Spieleabend und ich gehe aus dem Gemeinschaftsraum. Mit schnellen Schritten verschwinde ich im Mitarbeiterraum und lasse mich auf ein Stuhl sinken. Ich atme tief durch und schließe meine Augen. Ganz ruhig. Reiß dich zusammen, du kannst dich nicht hier verstecken. Nachdem ich zur Atem gekommen bin, stehe ich auf und verlasse den Mitarbeiterraum und knalle mit voller Wucht gegen eine Brust. Zur Hölle...
Ich trete zurück und schaue auf. Dylan. Ich spiele wirklich mit dem Gedanken, wieder zurück zu gehen. Doch ich tue es nicht. Ich verschränke meine Arme vor der Brust und recke mein Kinn heraus.
„Kann ich dir helfen?", frage ich völlig nüchtern.

„Wie geht es dir?"

Sein fucking ernst? Ich schnaube und sehe ihm in die eisblauen Augen. Ich werde ihm sicher nicht die Genugtuung geben.

„Sehr gut."
Ich bleibe kurz angebunden.

„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen", bemerkt er. Was du nicht sagst. An wem das wohl lag? Gott, ich hasse Dylan Morton. Mit seinen pechschwarzen Haaren, die ihm in die Stirn fallen, seinen beinahe zwei Metern, seinem sportlichen Körperbau und den schönsten Augen, die ich je in meinem Leben gesehen habe...argh! Ich hasse ihn.

„Schon möglich", ich zucke mit den Schultern und tue so, als würde mir die Vergangenheit nichts anhaben.

„Du hast dich verändert", murmelt er und sein Blick bleibt an meinen Augen hängen. „Bis auf deine Augen, die sind immer..."

„Stopp." Ich hebe meine Hand hoch und unterbreche ihn.

"Keine Ahnung was du bezwecken willst, aber ich habe dafür keine Zeit. Mag sein, dass wir uns kannten, aber inzwischen sind wir Fremde füreinander. Und daran wird sich niemals etwas ändern", sage ich und gehe an ihm vorbei. Lasse ihn stehen. 

Up to the Moon ~ Beat of your SoulWo Geschichten leben. Entdecke jetzt