23.Kapitel

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»W-Woher?«, stotterte ich. Doch eigentlich konnte ich mir die Frage selbst beantworten. Tanner war intelligent, wir hatten ihn schlicht und ergreifend mehr als unterschätzt.
Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass er die ganze Zeit über wirklich nichts geahnt hat, als ich mich zum Zweck der Mission an ihn rangemacht hatte.

»Denkt ihr, ich wäre dumm?«, bestätigte mir Tanner gerade meinen Gedankengang und sah dabei fast beleidigt aus, dass wir ihn wirklich so unterschätzt hatten.
»Seid wann hast dus gewusst?«, fragte Sandor zähneknirschend nach. Tanner zuckte mit den Schultern. »Von Anfang an, Sandor. Von Anfang an. Ich habe es so lange laufen lassen, weil ich interessiert daran war, was ihr von mir wollt. Ich wusste, dass Rachels Interesse an mir nicht echt war. Das hätte selbst ein Blinder gesehen. Außerdem hatte ich die ganze Zeit im Verdacht, dass ihr eigentlich zusammen seid.«
»Oh nein, wir sind ni-« »Psscht.«, unterbrach mich Tanner. Sandor sah mich ernst an.
»Ihr seid echt dumm hierhergekommen zu sein. Ihr tut mir fast schon leid, weil das wird richtig unschön für euch. Ich muss euch leider an meinen Boss verpfeifen.« »Deinen Boss?«, fragte ich mit immer lauter klopfendem Herzem nach. »Wer ist dein Boss?«, fragte Sandor skeptisch mit einer hochgezogenen Augenbraue nach. »Ihr werdet es nach der Show selbst erfahren. Aber es ist wahrscheinlich jemand, den ihr sehr gut kennt.«
Eine böse, sehr böse Vorahnung beschlich mich. Es konnte eigentlich nur eine Person sein, welche sich an einem Ort wie diesem aufhielt. »D-Derek?«, krächzte ich, mein Mund war vor Angst staubtrocken.
»Wie gesagt, dass seht ihr nach der Show. Und passt währenddessen auf euch auf, jeder, wirklich jeder in diesem Gebäude kennt euch.
Euren Fall. Wenn ihr heil durch die Show kommen wollt, dann verhaltet euch unauffällig.«

Tanner streckte sich und strich über seinen weißen Anzug, um den Stoff zu richten.
»Ich bin hier fertig. Ich gehe jetzt zurück zu der süßen Blondine von vorhin und schaue mir entspannt die Show an.« Er wandte sich zum Gehen um. Perplex starrte ich ihm hinterher, ungläubig darüber, dass er uns wirklich kein Haar gekrümmt hatte. Dass er uns wirklich nicht auf der Stelle getötet hatte. Dann brachte ich aber noch ein, »Warte!«, hervor. Tanner blieb in der Bewegung stehen und drehte sich zu mir um, sein Blick war undefinierbar.
»Was genau ist das für eine Show?«, wollte ich genauer wissen. »Das, liebe Rachel. Ist ein Redroom. Damit kennen Sandor und du sich doch wohl besonders gut aus.«, zwinkerte er mir zu. Ich fing an zu zittern. Redete er von dem Tag, als Sandor bei meiner Entführung damals an dem einen Tag die Clownsmaske aufhatte und mich vor laufender Kamera misshandelt hatte? Ja, das war ein Redroom gewesen. Aber woher wusste Tanner davon? Hatte er etwa das fertige Video gesehen? War es im Darknet? Mir schien die Frage ins Gesicht geschrieben zu stehen, da Tanner noch ein, »Jeder hier kennt dieses Video von euch zwei.«, hinzufügte. Ich wollte noch etwas sagen, oder ihn anschreien, irgendwas. Doch ich brachte keinen Ton heraus und sah einfach machtlos zu, wie er die rosa plüschige Tür öffnete und verschwand.

Mit offenem Mund drehte ich meinen Kopf richtung Sandor. Dieser schaute nur betroffen zu Boden. »Fuck, das hört sich alles echt scheiße an. Es tut mir so leid, dass ich dich hier mit hineingezogen habe.«
Ich schüttelte den Kopf, »Alles gut, es wird schon alles gut werden. Wir sind schließlich aus einem guten Grund hier. Und außerdem bin ich freiwillig mitgegangen.«
Ich sah, wie Sandors Augen glasig wurden, »Aber was ist wenn Jen und meine Mutter sowieso schon Tod sind? Dann haben wir alles umsonst gemacht. Uns umsonst in Schwierigkeiten gebracht. Wenn Derek wirklich hier ist Rachel... ich war zwar die ganze Zeit zuversichtlich, aber... ich habe das Gefühl, dass wir es dann nicht lebend hier hinausschaffen werden.« Ich verstand seine Sorgen. Ich hatte alles, was er gerade ausgesprochen hatte schon mehrmals abgewägt. Vielleicht war Hunter auch nicht hier. Vielleicht haben wir uns wirklich umsonst in Schwierigkeiten gebracht. Aber vielleicht konnten wir es ja auch irgendwie schaffen, diese ganze Scheiße mit Derek zu beenden.
Das hier war unser erster und einziger Anhaltspunkt. Wir hatten keine andere Möglichkeit.

So griff ich stumm nach Sandors Hand und ging mit ihm Richtung Tür. Kurz bevor ich sie aufstieß flüsterte ich ein, »Egal was hier gleich passieren wird, wir sind füreinander da und das ist erstmal alles, was wichtig ist.«

Dann schritten wir aus dem Raum hinaus. Das erste, was mir ins Auge stach war wieder der riesige rote Countdown, welcher jetzt nurnoch eine halbe Stunde anzeigte. Ich deutete auf eben diesen. »Wir sollten uns einen Platz suchen, wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Sandor nickte nur. »Freie Platzwahl, oder?«
»Genau.«
Die meisten Menschen hatten schon ihren Platz eingenommen. Malwieder ekelte ich mich vor meiner eigenen Spezies, als ich sie dort so erwartungsvoll sitzen sah. Als wäre das was gleich kommen würde wirklich nur ein gutes Theaterstück. Ich würde wirklich alles dafür geben, jetzt in einem Theater, statt hier zu sein.

Die vordersten Reihen waren allesamt schon belegt, was ich aber auch nicht schlimm fand, ich wollte so weit wie möglich von dem Geschehen entfernt sitzen. Da auch immer nur vereinzelt Plätze in den letzten Zwei Reihen frei waren, entschieden Sandor und ich uns für zwei Sitzplätze in der letzten Reihe auf der linken Seite der Tribüne. Wir saßen direkt am Gang, was gut war, da wir somit eventuell schnell flüchten könnten, falls etwas passieren sollte. Die Toiletten und das Restaurant waren ebenfalls nicht weit entfernt. Wenn man nach links schaute, sah man ein paar Meter weiter nochmal einen extra abgesperrten Bereich, welcher sich besonders nah am Boden und somit besonders nah am Geschehen befand.
Dort saßen nur Menschen - vorwiegend Männer - mit goldenen, silbernen oder knallbunten, glitzernden Anzügen und Masken. Ich ging davon aus, dass das wohl „VIP Plätze" sein mussten. Ekelhaft.

Ich versuchte so gut es ging Blickkontakt mit jedem Anwesenden zu vermeiden, spürte aber die neugierigen Blicke von unseren Sitznachbarn. Ich war schockiert, dass ich anhand des Körperbaus der Menschen fast jede Altersklasse ausmachen konnte. Hier saß der nette sechzigjährige Onkel neben dem frechen achtzehnjährigen. Die ende zwanzig jährige Masterstudentin neben einer geschiedenen fünfundfünfzig jährigen. Hier gab es wirklich alles, was es für mich sogar noch schlimmer machte. Hier könnte auch mein Nachbar sein, von dem ich soetwas niemals erwarten würde.
Aber im Endeffekt kannte man schließlich nie wirklich die Abgründe eines Menschen, selbst wann man diesem sehr nahe stand.
Mir fuhr augenblicklich ein fieser Gedanke durch den Kopf. Was ist, wenn Sandor das alles hier gefällt? Was ist, wenn er mich in eine Falle gelockt hat?

Sofort versuchte ich, die misstrauische Stimme wieder aus meinem Kopf zu verbannen. Sandor hatte mir schließlich keinen Grund mehr gegeben ihm irgendwie zu misstrauen. Er ist mein Partner in diesem Fall und ich musste ihm einfach vertrauen. Ich hatte keine andere Wahl. Unsicher suchte ich seinen Blick. Doch seine eisblauen Augen starrten nur konzentriert auf den Counter über uns.
Er zeigte nur noch lediglich fünf Minuten.
Ich merkte, wie ich mit jeder Sekunde nervöser wurde. Mein Mund wurde trocken und ich rang angestrengt nach Luft. Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Oberschenkel.
Sandor strich langsam über diesen und wand nun endlich seinen Blick zu mir. »Ich bin auch nervös«, sagte er gerade so laut, dass ich ihn noch über die tosende Menge hören konnte.
Stumm erwiderte ich seinen Blick.
Die Ungewissheit darüber, was nun genau in der Show passieren würde und wie schlimm das was passieren wird sein würde, machte mich wahnsinnig. Mir war klar - hiernach würde ich als eine andere Person aus der Show hinausgehen. Vielleicht brauchte ich noch mehr Therapiestunden hiernach. Sehr wahrscheinlich sogar. Und das machte mir verdammt Angst. Ich tastete nervös an meiner Hosentasche entlang und bemerkte wieder, dass ich mein Handy garnicht mehr hatte. Ohne mein Handy fühlte ich mich hilflos.
Mir kam der Moment, wo wir es am Einlass abgeben mussten, viel weiter entfernt vor, doch das war in Wahrheit nur vor ein paar Stunden gewesen. Ich fühlte mich ausgeliefert zwischen Verrückten, ohne die Möglichkeit die Polizei rufen zu können. Jedoch zwang ich mich, mich wieder zu beruhigen. Dabei half es mir immer, mir das Gesicht meines verstorbenen Vaters wieder vor Augen zu führen.

Ein lauter Gong ertönte und Sandor und ich zuckten gleichzeitig zusammen. Mein Blick schoss sofort auf den Arenabereich, wo wohl nun das Spektakel starten würde.
Sandors Hand krallte sich fester in meinen Oberschenkel. Ich sah, wie er seinen Unterkiefer anspannte. Er hatte Angst, genau wie ich. Und trotzdem versuchte er Haltung zu bewahren. Wenn nicht, würden wir schließlich auch zu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen.

»Willkommen, willkommen!«, ertönte durch die vielen Lautsprecher, von welchen einige an der Decke und einige am Boden befestigt waren. »Schön, dass ihr so zahlreich erschienen seid.«
Dann schritt endlich ein Mann auf die leere Fläche hinaus.
Ein Mann, von welchem ich dachte, dass er eigentlich noch im Gefängnis sitzen würde. Und doch stand er da.

Es war tatsächlich Derek.

This Person Will Not ExistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt