25.Kapitel

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Es war, als müsste ich meine eigene Entführung nocheinmal durchleben. Unten auf dem Platz wurden Leute aufgeschnitten, Knochen zersplittert, Menschen lebendig angezündet, Körperteile abgeschnitten, vergewaltigt, getötet. Ich wollte, dass dieser Albtraum endlich aufhörte. Doch ich konnte einfach nur da sitzen. Innerlich leer musste ich dabei zuschauen, wie ein Mensch nach dem anderen auf die freie Fläche geführt wurde und wie diese nacheinander starben. Ich fragte mich, was diese Menschen Derek oder einem der anderen Mafiamitglieder getan haben mussten, dass sie hier ein solches Schicksal erlitten. Oder ob die Opfer willkürlich ausgesucht wurden? Als ich mir ausmalte, dass die Sterbenden auch Mütter, Väter, Brüder, Schwestern, Söhne, Töchter, Opa oder Oma von jemandem waren, wurde mir abermals schlecht. Ich versuchte nun bereits seit circa zwei Stunden meinen Mageninhalt bei mir zu behalten und es fiel mir zunehmend schwerer. Wie lange ging dieser Albtraum hier denn noch? Ich mich so gern umdrehen und einfach gehen, aber ich konnte nicht. Wie festgenagelt saß ich auf dem unbequemen Plastikstuhl auf der Tribüne. Sandor neben mir spielte seit zwei Stunden ununterbrochen nervös mit seinen Händen, oder wippte mit seinem linken Bein. Aber er sprach mich nicht einmal in dieser Zeit an. Ich tat es ihm gleich. Was sollte man auch in so einer Situation sagen? „Hey Sandor, bitte nicht den Kopf verlieren, so wie der Mann dort unten gerade", etwa sowas? Egal was, jedes Gesprächsthema erschien mir als unpassend. So saßen wir also stumm nebeneinander und wir würden es auch noch die restliche Zeit tun, wenn keiner die Stille durchbrechen würde. Der Begriff „Stille" war an dieser Stelle wohl auch mehr als unangebracht, denn um mich herum tobte das Publikum, schrie, jauchzte, stöhnte, so erheitert waren sie über das Gemetzel am Boden. Ich wusste nicht, wie ich hiernach jemals wieder ein normales Leben führen sollte. Innerlich spürte ich immer mehr von mir absterben, mit jeder Sekunde, in denen ich meine Augen auf das Geschehen richtete. Und mit jeder Sekunde wuchs in mir der Drang mir entweder die Augen auszureißen, oder selbst sterben zu wollen, damit ich das nicht mehr mitansehen musste.

Gerade kündigte Derek den nächsten Akt an.
»Als nächstes seht ihr den „Bonebreakerrrrr!"«, auf die Fläche wurde eine alte Dame geschubst, so hart, dass sie hinfiel und vor Schmerzen kurz aufschrie. Ein breit gebauter Typ, bestimmt so um die dreißig, trat nochmal auf sie, als sie bereits am Boden lag. Ihr Rückgrat knackte und sie schrie erneut vor Schmerzen auf. Dieser Typ, der sie folterte, war bestimmt dreimal so schwer wie die alte Frau, ich wollte mir nicht vorstellen, wie kräftig sein Tritt gewesen sein musste. Währenddessen fiel mir auf, dass zwei Typen im schwarzen Anzug - wohl zwei Angestellte von Derek - wieder mal eine der vorherigen Leichen abtransportierten. So lief es bereits schon die zwei Stunden davor ab. Bisher kam kein Opfer hier wieder lebendig heraus und ich glaubte, dass das auch so bleiben würde. Ich hatte nicht mitgezählt wieviele Akte bis jetzt schon stattgefunden-, und wieviele Tote es damit wohl gegeben hatte. Aber ich schätze auf mindestens dreißig.
Der bullige Typ machte sich inzwischen an der Kleidung der alten Dame zu schaffen. Wie ein Stück Papier zeriss er ihr Shirt und anschließend ihren Rock. Sie blieb wimmernd und regungslos auf dem Boden liegen. Dass ich diesen Anblick von Nahem nochmal auf dem Bildschirm sehen musste, machte das alles nurnoch schlimmer für mich. Dann zog er seine Hose aus und... mir wurde schlecht. Allein der Größenunterschied zwischen den beiden musste das ganze für die alte Frau unglaublich schmerzhaft machen. Er zog dabei an ihren Haaren, riss sie damit büschelweise aus, zog sie an ihren Armen, verdrehte diese, bis sie in einem seltsamen Winkel von ihr abstanden. Und als er mit ihr fertig war... brach er schließlich mit einem gezielten Griff ihre Wirbelsäule. Anschließend ließ er sich mit erhobenen Armen vom Publikum feiern. Ich hatte heute endlich den Glauben an die Menschheit verloren. Komplett. Jedes letzte bisschen.

Ich stand ruckartig auf. Ich merkte, wie einige Blicke von meinen Sitznachbarn argwöhnisch auf mir landeten. Sandor griff nach meinem Arm, »Was tust du da?«. »Ich muss jetzt wirklich mal aufs Klo«, zischte ich zurück. Ich wollte aufs Klo, um mich dort ausgiebig übergeben zu können. Ich brauchte eine Pause von diesen ganzen Grausamkeiten oder ich würde noch hier und jetzt verrückt werden.
»Lass mich mitkommen«, Sandor sah mich ernst an. Ich winkte ab, »Alles gut, bin gleich wieder da.« Ich ließ ihm garkeine Zeit zu antworten, ich entzog mich einfach seinem Griff und verließ die Tribüne, da ich bereits spührte, wie mein Mageninhalt langsam nach oben wanderte.

Der lange Gang von vorhin auf welchen ich nun wieder trat, war gähnend leer. Es schien, als seien alle Menschen hier viel zu fokussiert auf das ihnen gebotene Spektakel. Mich störte es nicht, im Gegenteil. Ich war entspannt, dass ich gerade keinem dieser Arschlöcher über den Weg laufen musste. Die Toiletten waren nicht weit entfernt. Die Damentoilette war an einem kleinen Strichmännchen mit Kleid erkennbar. Ich stieß die schwarze Tür auf und trat ein.
Etliche Waschbecken waren nebeneinander aufgereit und ich musste eine gefühlte Ewigkeit an diesen vorbeilaufen, um endlich die Toiletten zu erreichen. Es waren alle frei und so entschied ich mich für die sauber aussehenste, um dort meinen gesamten Mageninhalt zu entleeren.

Als ich fertig war, blieb ich noch kurz atemlos im der Hocke sitzen, um mich zu beruhigen. Kurz schloss ich meine Augen, doch als sofort Bilder von den ermordeten Menschen aus den Vorstellungen vor meinem inneren Auge erschienen, öffnete ich sie wieder. Aufeinmal erschien es mir unmöglich hier Hunter lebendig rauszuholen. Wie sollten es Sandor, ich und Hunter es an all diesen kranken Menschen, welche auf Dereks Seite standen vorbeischaffen? Wenn... wenn ich es hier lebend rausschaffen sollte, werde ich alles dafür geben, dass Hunter und ich ein schönes, friedliches und sorgenfreies Leben führen können. Ich werde aus dieser Stadt wegziehen mit ihm, ganz weit weg, irgendwo hin, wo uns keiner finden würde. Bei der Vorstellung rannen mir endlich ein paar Tränen übers Gesicht, was heilend gegen meine innere Taubheit wirkte. Kurz hielt ich Inne, als ich jemanden anderen die Damentoilette betreten hörte. Schritte kamen immer näher, dann schloss sich jemand in der Kabine neben mir ein.

Ich verdrehte die Augen. Es waren so viele andere Kabinen frei, aber natürlich musste Frau in die Kabine genau neben mir gehen.
Ich richtete mich langsam wieder auf. Das war dann wohl mein Zeichen zu gehen, auch wenn ich mich noch nicht bereit dazu fühlte.
Aber schließlich konnte ich nicht ewig hierdrin bleiben. Irgendwann würde das auffällig werden und noch dazu wollte ich nicht, dass sich Sandor Sorgen machte. Ich konnte ihn hier nicht allein lassen. Mit diesem Gedanken wischte ich mir entschlossen die Tränen weg, richtete meine Maske und trat aus der Kabine heraus.

Das nächste passierte so schnell, dass ich nichtmal irgendwie reagieren konnte. Die Kabinentür neben mir wurde so schwungvoll aufgeschlagen, dass sie mich zur Seite warf. Hart schlug ich mit meinem Kopf auf dem weißen Fliesenboden auf. Schmerzerfüllt stöhnte ich auf, meine Sicht war verschwommen, sodass ich die Person, welche neben der nun offenen Kabinentür stand nicht erkennen konnte. Alles was ich sah war eine Schweinsmaske. Dann verlor ich das Bewusstsein.

This Person Will Not ExistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt