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Diese Geschichte ist gut, aber sie verlangt dem Leser einiges ab. Das finde ich grundsätzlich okay, denn es gibt nichts Schlimmeres, als eine langweilige Story. Diese hier tut genau das Gegenteil – es passiert enorm viel, aber für meinen Geschmack ist das Nebenher zu vieler Kontexte und Referenzen too much – eine gewisse Ideenökonomie hätte ihr gutgetan.

Was meine ich damit?

Alles beginnt promptgemäß. Ein Buchladen, merkwürdige Besucher. Diese gehen. Die Tür lässt sich nicht öffnen. Magie im Spiel? Wechsel des Bezugsszenarios. Wir sind in Capones Zeit.  Es gibt eine Schießerei. Es fließt viel Blut. Szenenwechsel. Der Bezugsrahmen wird technisch-fiktiv, wir treffen auf Avatare, die Realität für sich einklagen. Von da an diffundiert vieles – Erlebnisse werden digital und ätherisch. Der Protagonist behauptet sich und findet einen Weg hinaus. In den Alltag.

Das ist ein wahnsinnig interessantes Plotkonstrukt und doch too much für mein Gefühl. Es sind einfach zu viele Themen, die für sich genommen mehr Raum bräuchten: Digitalisierung des Alltags; Nacherzählung einer historischen Epochen, Veränderungen in der Wahrnehmung von Realität und Fiktion, erkenntnistheoretische Ausflüge (Die Geschichte heißt „Denke ich, also bin ich?“), Rollenbilder und Rollennormen.

Vieles wird angerissen und angedeutet, kommt aber an kein Ende. Für mich hat die Geschichte den Charakter eines Experimentierfeldes – jede Geschichte hat das Recht, eines zu sein. Diese wagt sich weit vor und versäumt es nicht, die Grundlagen der Experimente zu nennen, führt diese aber nicht zu einem konzisen Ergebnis zusammen. So bleibt vieles offen, zu viel, wie ich finde. Der Twist am Ende ist klug gewählt und versöhnt ein wenig, aber es gelingt in dieser Szene nicht, den Rest zu „retten“. Vielleicht musste er auch nicht gerettet werden. Vielleicht ist es eine gute Idee, wenn geneigte Leser*innen  ihre Erwartungshaltung zu diesem Text justieren.

Die Figuren sehe ich als „Leidtragende“ des komplexen Aufbaus. Sie bleiben oft abstrakt und wenig persönlich, ihre Handlungen sind manchmal wenig glaubwürdig (Der Buchhändler wird zum Killer, ohne lange zu zögern und zumindest Handlungsalternativen erwägen… naja xD). Da das Setting insgesamt leicht künstlich wirkt (was zur Geschichte passt!) färbt dies auch auf die Figuren ab. Etwas mehr Liebe zum Detail oder mehr Mut zur Individualität (gerade in diesem Setting!) hätte ich gut gefunden.

Sprachlich ist das Meiste absolut in Ordnung. Kommasetzung ist in jedem Falle ausbaufähig. Die Wortwahl passt gut, Satzlängen sind optimal gewählt und der allgemeine Flow stimmt. Die Menge der Dialoge passt gut. Manche Beschreibungen sind etwas überladen, da wäre weniger mehr gewesen. Es dominieren aber sehr stimmungsvolle Beschreibungen, die zu Bildwelten einladen auf die man sich gern einlässt.

Auch wenn es etwas zu mäkeln gibt, entfaltet die Geschichte einen sehr speziellen Reiz. Ich konnte sie einfach nicht weglegen,  musste wissen, wie es weitergeht. Darin liegt ihre große Stärke. Sie trägt den/die Leser*in durch das Geschehen und erzeugt einen Sog aus Neugier, Verwunderung und sich-verlieren-wollen-Lust. Sie ist wie ein Trip durch Zeit und Raum, bei dem man nicht weiß, wo er angefangen hat und wo er endet.

Ich vermute, dass diese Offenheit Absicht ist und Fragen eröffnet werden sollen, die keine einfachen Antworten erlauben. Das macht die Geschichte zu einer klugen Geschichte: weil sie nie vorgibt zu sein, was sie nicht ist.

Gut gemacht.

Gesamtpunktzahl:  467 von 555

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