Diese mit nicht einmal 2000 Wörtchen doch sehr kurze Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Ich konnte nicht anders, als sie nach dem ersten Lesen gleich noch einmal zu lesen, mit dem richtigen Wissen, worum es sich handelt.
Die Idee ist super, die Umsetzung ist es auch und ich versuche, diese Kritik spoilerfrei zu schreiben – denn ihr solltet sie unvoreingenommen lesen! Ihr solltet diese Geschichte lesen!
Der schlichte Titel passt gut zu dieser Erzählung.
Der Anfang irritiert ein wenig, weil sich der Ich-Erzähler nicht weiter vorstellt und auch nicht vorgestellt wird – aber das ist Absicht. Sehr gekonnt wird hier erst einmal die Erzählsituation offen gelassen und nur ein paar vage Andeutungen liefern Hinweise. Funktioniert jedenfalls gut, um die Neugier zu wecken.
Eine Stelle in der zweiten Zeile irritiert mich. Wonach streckt er seine Arme aus? “nach ihnen” – aber bisher gibt es nichts im Text, worauf sich diese Stelle beziehen könnte. Vielleicht ein Überarbeitungsfehler? Einen Satzteil gelöscht und vergessen, den Bezug im zweiten Satz ebenfalls herauszunehmen?
Aber schon der erste Abschnitt vermag es, eine gewissen Atmosphäre entstehen und den Ort vor dem inneren Auge auftauchen zu lassen.
Die Beschreibungen des Ich-Erzählers sind passend und sie fügen sich eine um die andere wie zu einem Puzzle zusammen. Die verschiedenen Episoden/Szenen im Text erzeugen ein Bild und sind stimmig aufeinander bezogen.
Beim Lesen hatte ich eine erste Vermutung, dass der Erzähler ein Obdachloser sein könnte, die sich allerdings schnell als falsch herausstellte.
Zur Mitte hin hat es dann “Klick” gemacht.
Der Schreibstil und die Sprache sind oft einfach gehalten, aber sie passen damit zum Inhalt. Auch die gewählte Ich-Erzählform ist perfekt gewählt und trägt zur Wirkung der Geschichte bei. Viele Protagonisten besitzt die Geschichte ebenfalls nicht, und die, die auftreten, werden nur soweit charakterisiert, wie für die Geschichte nötig. Dialoge sind ebenfalls nur minimal vorhanden (aber das reicht für diese Geschichte völlig) und eine wirklich aktive Handlung gibt es in diesem Sinne auch nicht, aber doch irgendwie schon. Ich versuche die Bewertung mit dem Raster des Inneren Monologs, um dieser Geschichte gerecht zu werden. Aber ob der Protagonist ein eigenes Ziel verfolgt und ob er gegen die Hindernisse ankämpft oder wie sehr der Protagonist zur Spannung beiträgt und ähnliche Punkte – puh, ich weiß nicht, wie ich das in Bezug auf diese Geschichte bewerten soll!!! Gerade hadere ich sehr mit dem vorgegebenen Bewertungsraster, weil es dieser Geschichte überhaupt nicht gerecht wird. Und das ist sehr schade.
Die Gefühle des Ich-Erzählers sind nicht immer nachvollziehbar oder sinnvoll für mich. Vor allem zu Beginn, als er sich über den Regen verärgert zeigt. Beim ersten Lesegang habe ich die Stelle überlesen (Klar Regen, kann schon ärgerlich sein), aber beim zweiten Lesegang bin ich daran hängen geblieben und fragte mich: Ja, aber wieso eigentlich verärgert? Vermutlich wurde dieses Gefühl gewählt, um den Leser erst einmal zu ködern, aber achte noch einmal darauf, ob du diese Verärgerung erklären kannst und sie wirklich Sinn ergibt.
Je weiter man liest und wenn man verstanden hat, wer da erzählt, umso besser kann man die Gefühle und die (Lebens-)Müdigkeit nachvollziehen. Die Geschichte wirkt.
Einmal stört mich eine Wortwiederholung: …”über und über mit Narben übersäht” und kurz darauf heißt es wieder “über und über” – das sind mir ein paar “über” zu viel.
Rechtschreibung, Satzbau, Ausdruck und Zeichensetzung sind ansonsten nahezu perfekt. Zwei Fehler: eines Nachts (hier ist eine bestimmte Nacht gemeint, daher groß) und einmal wurde “Zeit” klein geschrieben, weil die Geschichte aber relativ kurz ist, hauen die punktemäßig leider schon etwas rein.
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Ideenzauber 2023 - Kritikbüchlein
Short StoryIn diesem zauberhaften Büchlein finden die Teilnehmer*innen des Ideenzaubers ihre Bewertungen. Übersichtlich und anonym.