Achtung, die Kritik ist nicht ganz spoilerfrei gelungen:
Der Beginn der Geschichte entführt einen sofort in ein Märchen.
Leider stolpert man schon im ersten Absatz über den unnötig komplizierten Satzbau und Ausdruck, der vermutlich gewollt märchenhaft und exotisch sein soll, aber eigentlich nur den Lesefluss und das Verstehen des Inhalts ausbremst.
Die Holprigkeiten in Satzbau und Ausdruck ziehen sich durch die gesamte Geschichte.
Im weiteren Verlauf wird der Leser direkt angesprochen und ihm wird klar gemacht, dass der folgende Text eine Warnung sein soll. Noch weiß ich nicht, was auf mich zukommt und kann daher noch nicht viel mit der Warnung anfangen.
Im nächsten Abschnitt ändert sich die Perspektive und anders als erwartet, landet der Lesende nicht in einer Märchenwelt von Annudazumal, sondern in einer Welt in der es Automobile, Boote etc. gibt. Den Ausdrücken nach spielt die Geschichte in Indien.
Im weiteren Verlauf überrascht mich nicht nur der Weltenbau und die Atmosphäre, sondern auch die Personenwahl. Immer wieder stelle ich Hypothesen zu der Welt auf, in der diese Geschichte spielt, nur damit sie im übernächsten Absatz über den Haufen geworfen werden. Die Erklärungen zum Weltenbau sind dürftig und in den Erzähltext eingebaut, alles wird erzählt statt gezeigt (Tell statt Show).
Es gibt in dieser Welt Blaubärte und Vishakanya – aber die Erklärungen was es mit diesen Begriffen auf sich hat, bleiben vorerst vage, ebenso wie das Übergangsritual, das wohl der Anlass für die beschriebenen Ereignisse ist. Erst einmal musste ich mit vielen Fragezeichen lesen und leben.
In einem Absatz sind mir zudem die Bezüge unklar. Erst wird die erzählende Person mit dem Namen bezeichnet und im nächsten Absatz mit “die Blaubart”. Beim ersten Lesen konnte ich ihr diesen Begriff nicht zuordnen, beim zweiten war es dann klar. Insgesamt wurde mir vieles erst beim zweiten Lesedurchgang bewusst. Hier hätte es vielleicht noch mehr erklärende Elemente benötigt, um die Welt und ihre Sitten auf Anhieb besser verstehen zu können. Zumal die erdachte Welt sehr facettenreich und faszinierend erscheint und nicht jedem Leser Indien und die Begriffe vertraut sind und nicht jedem der Blaubart-Mythos bekannt ist, der zudem hier sehr stark verfremdet umgesetzt wird.
Zu Beginn erhalte ich den Eindruck, die erzählende Person kenne sich in der Stadt des Schauplatzes gut aus, aber bei der Begegnung mit der Giftmaid wird diese Hypothese auch schon in den Wind geschlagen. Sie kennt diese Personen offensichtlich nur vom Hörensagen und besitzt nur ein Halbwissen.
Dann folgen weitere Überraschungen: Der Schlüssel und die Übergabe scheinen vergessen, die gerade erst getroffene Giftmaid, die nur mit einer Berührung töten können soll, wird mit nach Hause genommen? Und sie nimmt die völlig plötzliche Einladung an. Überraschend, aber okay, darauf kann ich mich noch einlassen.
Zweite Überraschung: Ein abrupter Perspektivwechsel im zweiten Kapitel zu besagter Giftmaid, wo ich gerade erst begonnen habe, die Blaubart zu verstehen und kennenzulernen. Aber gut, auch das nehme ich lesend hin.
Zumindest gefallen mir die Beschreibungen der Schauplätze und Details im Schloss. Sie sind sehr bildlich und genau. Man sieht vor sich, wovon man liest.
Kapitel III beginnt mit einer Rückblende, die richtigerweise im Plusquamperfekt erzählt wird, aber so allerdings auch Distanz beim Lesen erzeugt, da das Erzählte schon zurückliegt, wir nicht “in Echtzeit” dabei sind und wissen, dass wohl nichts von Bedeutung passiert ist, dabei besitzt das, was erzählt wird, für die weitere Geschichte eine enorme Relevanz. Von daher ist die Entscheidung, diese erste Begegnung als Rückblende zu erzählen, schade für die Dramaturgie. Es geht viel im Effekt verloren.

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Ideenzauber 2023 - Kritikbüchlein
Short StoryIn diesem zauberhaften Büchlein finden die Teilnehmer*innen des Ideenzaubers ihre Bewertungen. Übersichtlich und anonym.