Liebe Autorin, lieber Autor,
selten habe ich einen Text gelesen, der so minimalistisch angelegt war und mich dennoch so sehr erreichen konnte, wie dieser Text. Das Lesen hat einen Wow-Effekt bei mir hinterlassen und ein „Ups – schon vorbei“. Ich bin mitgeflogen, in Gedanken und mit Spannung. Durch deine Metaphern und die dichte Atmosphäre, die du trotz der Kürze deines Textes erzeugen konntes. Danke dafür! Mein Leserherz konntest du damit erreichen.
Mit knapp über 500 Worten, hat der Text die nötige Anzahl, um dabei zu sein. Die geringe Wortzahl lässt aber auch schon erahnen, dass an der einen oder anderen Stelle dadurch die Vorgaben durch das Bewertungsraster nicht vollumfänglich erreicht werden konnten. Dennoch habe ich für das Erfassen der Situation nichts vermisst.
Dieser Monolog, war spannend für mich zu lesen, aus dem Grund, weil ich eintauchen konnte in die Gedankenwelt der schreibenden Person - um das Kreisen darum, die Gedanken aus der Feder fließen zu lassen, um zu fliegen. Eine Kunst, die du auf jeden Fall beherrschst.
Sprachlich, rhetorisch und stilistisch ist das eine hochwertige Arbeit. Jedes Wort und jeder Satz sind wohldurchdacht und sauber platziert, um zum Ziel zu gelangen. Dadurch wird die Handlung getragen, die innere Entwicklung des Charakters wird sichtbar und das war wunderschön zu lesen für mich.
Wenn man selbst der schreibenden Zunft angehört, erscheint die Idee nicht neu im Ansatz. Jeder mit dem ich diesbezüglich in Kontakt stehe, hat irgendwann innerhalb seiner Schreibprozesse diesen Punkt erlebt. Was hier heraussticht ist, wie gut durchdacht der kurze Monolog ist, um in der Kürze alles zu erfassen, was hindert und was zur Überwindung hilft.
Dieser Monolog lässt für das, was er vermitteln möchte nichts zu wünschen übrig. Durch den eingeschränkten Rahmen der Handlung erreicht er aber nicht den Facettenreichtum, der sich ergeben hätte, wenn ich eine räumliche Vorstellung des Außenraums erhalten hätte. Auch habe ich keine Vorstellung vom äußeren Erscheinungsbild des Protagonisten. Auf der anderen Seite machte das aber auch den Reiz beim Lesen aus. Der Platz am Fenster und der Protagonist lassen jedem Lesenden auf seine Weise Raum, sich mit der Person zu identifizieren und das Aha-Erlebnis für sich selber zu entdecken. Diese Dichte wiegt das so sehr auf, dass es mir schwer fiel hier das richtige Maß zu finden und ich hoffe, hier das nötige Fingerspitzengefühl entwickelt zu haben, wenn ich dem Facettenreichtum 4 Punkte abziehe und 6 von 10 Punkten verteile, denn Detailreichtum wies der Monolog nicht auf. Dafür war er zu zentriert auf eine kleine Sequenz von etwas, das sich wunderschön in eine große Geschichte einbetten ließe.
Figurenentwicklung und ihre Charakterisierungen finden nicht statt im eigentlichen Sinn. Die Meinung der anderen und das Fazit des Protagonisten. Wo ich bei dem Protagonisten noch die Entwicklung zur eigenen Meinung erlebe, seine Zielerreichung erleben darf, erfahre ich nichts über die Zusammenhänge und Verbindungen zu den anderen. Beschreibungen gibt es hier nicht. Diese sind für den Monolog auch nicht von Belang, sind aber Bestandteil des Bewertungsrasters. Den Protagonisten kann ich trotz fehlender Beschreibungen erfassen; um mir ein Urteil über seinen Charakter zu erlauben, fehlen aber die Details. Die Person an sich kommt mir nicht nahe, dazu kann ich sie mir zu wenig vorstellen, was wie weiter oben beschrieben einen eigenen Reiz hat, aber für die Tiefe nicht die Betrachtung zulässt, um was für einen Charakter es sich hier handelt. Da das Raster im Vorfelde bekannt war und ich es toll finde, dass nicht nach diesen Punkten geschrieben wurde, sondern du hier dein Innerstes nach außen kehrtest, nehme ich an, dass dir bewusst ist, dass hier nicht die Punktzahl erreicht werden kann, als wenn man eine allumfassende Kurzgeschichte schreibt. Ich bewundere dich dafür und möchte auf jeden Fall sagen: „Doch, das kann man lesen – und nicht nur einmal!“
So sehr mein „Wow“ und „Ups schon zu Ende – Effekt“ für die Geschichte sprechen, beziehen sie sich auf die Art und Weise, wie hier mit gezielten stilistischen Mitteln und schönen Metaphern in der Kürze des Textes eine dichte Atmosphäre geschaffen wurde. Dennoch hat mich der Text nicht in dem Maße „berührt“ oder „Emotionen“ hervorgerufen, die möglich gewesen wären, wenn ich der Person an sich nähergekommen wäre. Äußere Beschreibungen sind nicht alles, aber sie tragen dazu bei, dass man einer Figur, wie auch einem Menschen näherkommen kann. So bleibt immer eine gewisse Distanz, die mich als Beobachter am Geschehen teilhaben lässt, aber nicht die Nähe entwickelt, die mich auch fühlbar der Person nahebringt. Das Dilemma in diesem Fall ist, dass aufgrund der Effektivität dieses Textes nicht mehr eingesetzt wurde, als für die Szene im Mindestmaß erforderlich war. Die Handlung wird vorangetrieben, der innere Zwiespalt auch, aber nicht die Figur an sich. Mir fällt aber auch kein konstruktiver Vorschlag ein, wie man es hätte anders machen können, weil der Monolog als solches 1a funktioniert. Trotzdem sind kaum Sinneseindrücke vorhanden und Beschreibungen auf ein Minimum reduziert, sodass auch hier nicht die mögliche Punktzahl erreicht wurde.

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Ideenzauber 2023 - Kritikbüchlein
Short StoryIn diesem zauberhaften Büchlein finden die Teilnehmer*innen des Ideenzaubers ihre Bewertungen. Übersichtlich und anonym.