Kapitel 24

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„Nun ja..." beendete Alec eine halbe Stunde später die längste Rede seines Lebens.
„Und dann saß ich in den Flieger, zu schockiert um einen Ton zu sagen und zu panisch um zusammen zu brechen. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich begriffen habe, dass ich tatsächlich die nächsten acht Wochen in einem Wildniscamp verbringen soll. Acht Wochen... mit wildfremden Menschen. Ich war so wütend auf Izzy..."
Clary hatte die Hände in den Taschen ihrer Freizeithose vergraben. Ein spitzbübisches Lächeln trat auf ihre Lippen.
„Und jetzt bist du es nicht mehr." stellte sie fest.
„Nein." Alec seufzte.
„Jetzt... bin ich fast ein bisschen stolz auf mich."
Er verzog kläglich den Mund.
„Magnus hat eine Menge getan, um mir zu helfen. Von Anfang an... Ich weiß nicht, warum er es getan hat..."
„Ich hätte es ihm nicht zugetraut." gab Clary zu. „Am Anfang war er mir regelrecht unheimlich mit seinen launischen Stimmungen."
„Er... er ist nett."
Alec wurde – wie sollte es auch anders sein – wieder rot, als Clary den Kopf drehte und grinste.
„Nur nett?"
„Ich mag ihn..." murmelte er. „... sehr..."
Die junge Frau nickte, als hätte sie es gewusst.
„Ich hab Angst..." fuhr Alec fort. „Angst vor der Heimkehr. Angst davor Camille gegenüber zu treten. Das mit ihr ist so ganz anders als mit Magnus..."
Clary zog ihn an die Seite zu einem umgestürzten Baumstamm und setze sich.
„Da ist noch etwas, das du weggelassen hast, ja?"
Alec vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
„Ich kann nicht..." flüsterte er kläglich.
Sie schwieg und wartete. Sie ahnte, dass es nichts bringen würde ihn zu drängen. In seinem Leben schien es wenige Leute gegeben zu haben, denen er einfach mal das Herz ausschütten konnte. Manchmal war es nicht einfach das auszusprechen, was einen bewegte, weil es in diesem Moment zur Tatsache wurde.
„Ich..." begann Alec nach einer ganzen Weile und fühlte wieder die Röte in seine Wangen steigen.
„Ich habe gedacht... ich meine... Izzy sagt, ich bin verrückt... aber ich mochte Sex... oder Intimitäten allgemein nicht sonderlich... mit Camille..."
Clary's Mund klappte auf, aber sie zwang sich gewaltsam still zu sein.
Alec's Blick richtete sich in die Ferne, als würde er etwas völlig anderes betrachten.
„Mein Vater sagte, es wäre die Normalität... mit einer Frau zu leben, sie zu heiraten... da gehört der Sex eben dazu..."
Er verstummte einen Moment und räusperte sich.
„Mit... mit Magnus... ist das anders." flüsterte er und wischte sich mit der Hand über die Augen.
„Es ist toll... und ich habe Angst... Ich weiß nicht, was ich machen soll... ich weiß gar nichts mehr."
„Bei den Engeln..." flüsterte Clary und legte einen Arm um seine Schultern, als ein schier verzweifeltes Schluchzen aus ihm heraus brach. Behutsam zog sie in an sich und strich ihm über den Rücken, während sie bei sich dachte, dass man dieser Izzy einen Orden verleihen sollte. Sicherlich war die Methode etwas extrem, aber das Ergebnis zählte. Leider war von einem Happy End noch nichts zu sehen... Und Maia's Worte hatten so ziemlich ins Schwarze getroffen.
„Hast du..." fragte sie zögerlich. „...mit deiner Frau darüber gesprochen?"
Er nickte und atmete ein paar Mal tief durch, um sich wieder zu beruhigen.
„Sie hat gesagt, sie bräuchte ab und zu Sex und ich wäre mit ihr verheiratet, ich soll mich nicht so anstellen..."
„Was?" Clary fuhr entsetzt auf.
„Ich wusste es doch nicht anders..."
Plötzlich klang seine Stimme traurig und wie aus weiter Ferne.
„Mein Vater hat mich mein ganzes Leben so erzogen... eine Frau heiraten, eine Familie gründen, in seine Fußstapfen treten... Izzy war die einzige, die sich dagegen sträubte und ich... ich habe ihr nicht geglaubt. Gott, war ich dumm..."
Er stützte seine Arme auf seine Knie und ließ den Kopf hängen.
„Wenn ich nur geahnt hätte..."
Zorn stieg in Clary hoch. Wenn sie es auch nicht aussprach, so dachte sie doch, dass Alec's Vater ein selbstgefälliges Arschloch war. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass es in der heutigen Zeit immer noch Leute mit diesen Vorstellungen gab und darin auch noch bestärkt wurden. So wie es aussah hatte nicht nur Izzy einen Orden verdient, sondern auch Magnus.
„Süßer..." sagte sie schließlich trocken. „... wie sieht Magnus das Ganze?"
„Er sagt, ich soll kein schlechtes Gewissen haben..."
Alec seufzte wieder.
„Er weiß, dass ich zu meiner Frau zurückkehren werde..."
„Wirst du das?" fragte Clary mit einer nach oben gezogenen Augenbraue.
Er nickte ernst.
„Ich bin verheiratet. Die Ehe ist ein Versprechen..."
„Pfff..."
„Aber ich soll in den restlichen vier Wochen mal nur an mich selbst denken..."
Er holte tief Luft.
„Ich denke nicht an die Zukunft. Erst, wenn es soweit ist... Ich werde Magnus nie vergessen. Nie."
„Viele Menschen lassen sich scheiden." sagte Clary leise. „Manchmal muss man solch einen Schritt gehen, um nicht den Rest seines Lebens unglücklich zu sein."
„Es würde einen Skandal nach sich ziehen... meine Eltern..."
„Alec!" fuhr Clary auf. „Denk an dich selbst und an niemanden sonst. Es ist dein Leben. Nicht das deiner Eltern."
Alec's Kopf sank wieder auf seine Arme. Die Zukunft schwebte wie eine ungewisse schwarze Wolke über seinem Kopf und er hatte keine Ahnung, ob er die Kraft hatte ihr zu begegnen.
„Genieße die restlichen Wochen." fuhr die junge Frau jetzt wieder ruhiger fort. „Hab kein schlechtes Gewissen, dass hat deine Frau nicht verdient."
Alec drehte den Kopf und lächelte sie reichlich missglückt an.
„Danke..."


Den ganzen restlichen Tag über war Alec... nachdenklich. Nicht dass er unaufmerksam gewesen wäre, aber wann immer er einen Moment für sich allein hatte, wanderten seine Gedanken zurück zu dem Gespräch mit dem Rotschopf.
Mein Vater sagte, es wäre die Normalität...
Mein Vater hat mich mein ganzes Leben so erzogen...
Selbst in der Nacht beschäftigten ihn seine eigenen Worte dermaßen, dass er kaum Schlaf fand. Unruhig warf er sich hin und her, angestachelt durch ein leises Wispern in seinem Kopf.
Was wäre, wenn...
Plötzlich hatte er das Gefühl nicht mehr atmen zu können. Die Luft wurde stickig und die Wände kamen auf ihn zu... Er wusste, das war nur in seinem Kopf, trotzdem wurde ihm die Hütte zu klein, zu eng, zu... Er wusste nicht was, er wusste nur eins: er musste hier raus. Und das so schnell wie möglich.
Was wäre, wenn...
Eilig, fast schon hektisch zog er sich eine seiner kurzen Hosen an, warf sich ein Hemd über und schlüpfte in seine Schuhe. Nur kurz hielt er inne, um nach dem einzig Wertvollen seines bisherigen Lebens zu suchen. Dann erst stolperte er hinaus in die langsam endende Nacht.


Die ersten hellen Streifen zeigten sich am östlichen Horizont, als er sich schwer atmend in den Sand des Seeufers fallen ließ. Erst jetzt hatte er das Gefühl wieder Durchatmen zu können. Doch das Flüstern war noch immer da...
Was wäre, wenn...
Ja, was wäre wenn...
Wollte er diesem Gedanken wirklich nachgehen? Oder würde es sich als Büchse der Pandora erweisen, die er nicht wieder schließen konnte?
Zögerlich öffnete er das kleine Mäppchen, das seine Finger die ganze Zeit krampfhaft umklammert gehalten hatten.
Was wäre, wenn...
Sein Blick fiel auf das Bild seines jüngeren Selbst, schlaksig, hager und mit dem gebrochenen Arm. Beinahe konnte er das Gewicht des Gipses spüren. In seiner Erinnerung hörte er das Lachen, gedämpft durch laute Musik und Alkohol.
Was wäre, wenn...
Was wäre, wenn sein Vater es damals nicht herausgefunden hätte?
Was wäre, wenn sein Vater die Karte mit der Telefonnummer nicht gefunden hätte?
Hätte er „seinen" Kater wirklich angerufen?
Und wenn ja, was dann? Hätten sie sich noch einmal getroffen? Hätte das sein Leben in eine andere Richtung gelenkt?
Oder was wäre, wenn Izzy herausgefunden hätte, wer hinter der Maske gesteckt hat?
Fragen, so viele Fragen und es wurden stetig mehr.
Aber hätte es wirklich irgendwas geändert? Sein Vater hatte seine Zukunft doch schon längst verplant gehabt. Er hätte trotzdem in das Internat gemusst, vielleicht nur etwas später... Früher oder später wäre seinem Vater mit Sicherheit etwas aufgefallen. Und selbst wenn sie danach noch in Kontakt geblieben wären, hätte er nach der Schule und dem Studium trotzdem in der Firma angefangen und sein Vater hätte ihn trotzdem verheiratet...
Oder nicht?
Er seufzte und schloss die kleine Mappe wieder. Was brachte es darüber nachzudenken? Es war Vergangenheit... Er konnte es nicht mehr ändern...
Der Schrei eines Vogels riss ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn aufschauen.
Wie schon an seinem ersten Morgen fühlte er sich in eine Märchenwelt versetzt, als er die dichten Nebelschwaden vom See zwischen die Bäume wandern sah. Würde er nur ganz still hier sitzen und lange genug warten, er war sich sicher, er würde sie bestimmt sehen können – die kleinen Elfen und Feen, von denen seine Schwester so begeistert war... zumindest früher einmal. Und auch wenn er nie daran geglaubt hat, so wünschte er sich in diesem Moment beinahe, dass es sie wirklich geben würde.
Ein Lächeln schlich sich auf seine Züge, als er das Wirbeln des Nebels betrachtete, welches seinen Augen Bewegung vorgaukelte, wo keine war. Gerade so als würden winzig kleine Gestalten mit ihren winzigen Flügelchen in der Luft tanzen.
Doch dann hörte er ein Rascheln und mit rasendem Herzen starrte er in die Richtung, aus der es gekommen war. Oder spielten ihm auch seine Ohren einen Streich?
Was wenn es ein wildes Tier war?
Luke meinte zwar, dass es hier nichts gäbe, was ihnen wirklich gefährlich werden könnte. Aber hey, wie kamen die Rehe auf die Insel? Was wenn sie dieses Kunststück einem Bären verraten haben? Er hätte seine Hütte nicht mitten in der Nacht verlassen sollen und schon gleich gar nicht das Lager. Was wenn ihm hier etwas zustoßen würde...
Ein Schatten zeichnete sich in den grauweißen Schwaden ab, unförmig und unproportional. Das Spiel aus Licht und Schatten zeichnete eine Kreatur mit viel zu langen Armen an einem sich verzerrenden Körper.
Alec hielt seinen Atem an und lauschte angestrengt nach den Geräuschen. Vielleicht würde ihm das einen Hinweis auf seinen Besucher geben. Aber Moment... wie klang eigentlich ein Bär? Verdammt, er würde hier ganz sicher sterben...
„Alexander?"
Okay... Er wusste vielleicht nicht viel über die Wildnis, aber ein Bär würde ihn bestimmt nicht bei seinem Namen rufen.
Erleichterung durchströmte ihn, während er langsam aufstand. Mit einem vielleicht etwas wehmütigen Lächeln hob er die kleine Mappe an seine Lippen – ein stummer Abschied für eine geliebte Erinnerung – ehe er sie in der Beintasche seiner Hose verschwinden ließ.
Was wäre, wenn...
Er wusste es nicht, aber es war auch nicht wichtig. Denn wer weiß wo er jetzt wäre, wenn sein Leben anders verlaufen wäre. Doch mit Sicherheit nicht hier, an einem nebligen Seeufer mit einem so wundervollen Mann. Und vielleicht hatten Maia, Clary und Magnus ja Recht. Er sollte die Zeit, die ihm hier noch blieb einfach genießen...
„Magnus? Was... was machst du hier?"
„Ich habe dich an meiner Hütte vorbei stürmen hören. Ist alles in Ordnung?"
Der Asiat sah deutlich besorgt aus und musterte Alec eingehend.
„Ja, ich... ich konnte nur nicht schlafen."
Mit einem scheuen Lächeln lehnte er sich in die starken Arme, die ihn schützend umschlossen.


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