Gleicher Tag

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Mein kleiner Bruder lag auf meinen Beinen und hielt meine Finger eisern fest, während seine Füße in der Luft strampelten. Ich liebte ihn von Herzen. Er brachte mich zum Lachen, ohne etwas dafür machen zu müssen, gleichzeitig kämpfte ich unentwegt mit den Tränen und hielt sie zwanghaft zurück.

Um mich herum wurde laut gelacht und viel geredet. Birgit und Steven hatten uns empfangen, nachdem wir vom Strand nach Hause gelaufen waren. Den ganzen Weg hatte ich meinen Bruder auf den Armen getragen und ihm still meine Liebe geschenkt. Ich musste ihm jetzt alles geben, bevor ich es nicht mehr konnte. An etwas anderes konnte ich nicht denken. Nathan und Adam hatten diese Chance geschaffen, sodass ich meinen Bruder mit Leib und Seele lieben konnte.

Ich brauchte mehr Zeit, viele weitere Jahre, damit ich Julian beim Aufwachsen zusehen konnte. Ich wollte mit ihm spielen, ihn mit Geschenken überhäufen, ihn lachen sehen und hören. Ich wollte mich mit ihm streiten, von ihm auf die Palme gebracht werden und mich mit ihm vertragen. Ich wollte ihn zum Kindergarten bringen und abholen, mir seine geschaffenen Werke ansehen und ihm stundenlang zuhören. Ich wollte seine Einschulung miterleben und ihn wissen lassen, wie stolz ich auf ihn war. Ich wollte ihm jeden Tag die Geschichte der Sterne und unserer Großmutter erzählen. Ich wollte seine erste Freundin kennenlernen, ihn von Dummheiten abhalten und mich auf seine Seite schlagen, wenn er sich mit unseren Eltern stritt.

Ich wollte für ihn da sein.

Aber ... Aber ...

Meine Tante nahm meinen Bruder an sich und Nathan setzte sich um, sodass meine Mutter und mein Vater neben mir sitzen konnten. Beide schlossen mich in ihre Arme, hielten mich und fingen meine verzweifelten Tränen auf. Ich wollte diese Krankheit überleben und auf eine Zukunft hoffen, doch da war ein so großer Teil in mir, der längst begriffen hatte, dass meine Zeit begrenzt war und es diese Zukunft nicht gab.

Letztlich hatte ich mich in das Flugzeug gesetzt, um Abschied zu nehmen. Weil ich meinen Tod akzeptiert hatte. Und nun konnte ich das nicht mehr. Nathan zu kennen und zu lieben hatte alles einstürzen lassen. Seinetwegen wollte ich leben und herausfinden, was für eine Zukunft wir haben konnten. Ich wollte Nathan länger lieben und von ihm geliebt werden. Ich wollte sein Lieblingsbuch verlängern.

Aber ich hatte den Tod vor mir stehen. Jeden Tag klopfte er an meine Tür und wollte mich mitnehmen. Doktor Jun hatte gesagt, es war meine Entscheidung, ob ich ihn hereinließ, aber stimmte das? Konnte ich diese Entscheidung treffen?

Ich legte meine Hände auf die Arme meiner Eltern und ließ los. Einmal mehr überrollten mich die Gefühle, zeigten, wie schlecht es mir gerade ging und meine Gedanken mich zerstörten. Worte entwichen mir, die ich sonst für mich behielt, weil ich andere nicht sehen lassen wollte, wie es in Wahrheit in mir aussah. All meine Gedanken kamen zum Vorschein. Es war die Anwesenheit meiner Mutter, die mich alles aussprechen ließ. Ihre Liebe und ihr starker Wille, dass wir die schwere Zeit erneut meistern würden, gaben mir den nötigen Mut, mich zu öffnen und alles, was ich seit Monaten dachte, auszusprechen.

Nathan, Adam, Brandon und Olivia erfuhren das erste Mal von der Zukunft, die ich mir erträumte. Vor meinem Umzug hatte meine Zukunft anders aussehen sollen. Sie hatte sich mittlerweile verändert.

„Ich will das Surfen endlich lernen und mit Adam im Meer schwimmen und ich will mit Nathan zusammen bleiben und mit ihm ein Haus beziehen und ... und ... Ich will Kinder und zwei Hunde und ich will mit Julian jeden Geburtstag feiern und ..." Meine Stimme brach und ich schluchzte bitterlich. „Ich will in Australien bleiben und hier leben, Mama. Ich will noch so viel mehr mit Olivia und Brandon erleben und sie noch viel, viel besser kennenlernen. Ich will nicht, dass das ... dass alles so früh endet. Ich ... Ich will doch nur leben!"

Das Ende steht in den Sternen *PAUSIERT*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt