21. Juni, Donnerstag

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Die Worte meiner Mutter setzte ich am frühen Morgen um.

Der Abend war spät geworden und die Nacht umso kürzer, die ich nackt und eng umschlungen mit Nathan verbracht hatte. Mir war der fehlende Schlaf egal. Jede Stunde war Gold wert. Jeder einzelne Moment bedeutete weitere Erinnerungen und noch mehr Gründe, die Tür vor dem Tod geschlossen zu halten und etliche Schlösser anzubringen, damit er nicht hereinkam. Ich wollte ein zweites Wunder und erleben, wovon Nathan ebenfalls träumte.

Eine Hand ruhte auf meiner Brust und fühlte den kräftigen Herzschlag. In meinem Kopf hatte sich eine Rede geformt, die mir gerade belanglos vorkam. Es war nicht das, was ich dem Meer entgegenrufen wollte.

Nathan stand an meiner Seite und wartete, was nun geschah. Er behielt mich aufmerksam im Auge, wissend, dass es mir nicht gut ging. Ich war schwächer als die letzten Tage. Vor einer Stunde hatte er noch die frischen Wunden versorgt und abgedeckt. Die Krankheit ließ mich den neuen Schub deutlich spüren, als hätte sie auf das Ankommen meiner Familie gewartet, um mich jetzt ihnen wegzunehmen.

„Ich bin hier, Leo."

Ich nickte.

Nathan blieb im Sand stehen, während ich wenige Schritte zum Wasser ging und die Wellen über meine Füße schwappten. Um die Uhrzeit war das Meer frischer. Vor mir ging die Sonne auf und erhellte den Himmel, der mit grauen Wolken bedeckt war. Keine Sterne.

„Ich will es zurück", begann ich gerade laut genug, dass Nathan es hören konnte. Als Kind war mir das Brüllen nicht schwer gefallen, doch nun war es mir peinlich. Früher hatte ich zu jeder Zeit geschrien und getobt. Doktor Jun hatte in mir sicherlich seine schwerste Patientin gesehen.

„Ich hasse es." Tränen sammelten sich in meinen Augen. „Ich hasse das!", rief ich lauter und spürte, wie meine Wangen heiß wurden, aber jetzt wollte ich nicht aufhören. Meine Mutter hatte recht. Früher war es mir mit dem Fluchen besser ergangen. Ich hatte meinen Kampfwillen gezeigt und geschworen, niemals aufzugeben. Ich war ins Leben zurückgekommen, als mich die Ärzte aufgegeben hatten. Ich stand heute hier.

„Ich hasse diese Krankheit!", schrie ich hinaus. „Ich will mein Leben zurück! Ich will verdammt nochmal leben!"

Der Damm war gebrochen.

Ich schrie, wie sehr ich die einzelnen Symptome hasste. Jedes Symptom zählte ich einzeln auf und unterstrich es mit meiner Verachtung. Ich begann zu beleidigen und zu fluchen. Die Sätze wiederholten sich, die Tränen vermehrten sich. Je mehr ich sprach, umso häufiger musste ich schlucken und brauchte eine Pause, bevor ich weitermachte.

Ich hörte nicht auf. Nicht einmal dann, als meine Beine nachgaben und ich auf dem sandigen Boden saß.

Die Wellen brachen vor mir und das Wasser schlug gegen meine Knie. Meine Kleidung sog die Nässe auf, was mich nicht interessierte.

„Ich will noch nicht zu dir, Oma! Ich will das nicht! Ich will nicht! Du siehst doch, dass ich glücklich bin! Ich habe jemanden gefunden, den ich liebe und ich will mit ihm alle meine Wünsche erfüllen! Ich will zu keinem Stern werden!"

Mit den Fäusten schlug ich auf den Boden, wirbelte das Wasser auf und schrie den letzten Satz mehrere Male. Ich war nicht bereit für den Himmel. Wenn ich an ein Morgen dachte, sah ich Nathan und mich mit unseren Kindern. Ich sah uns als Großeltern. Ich sah meinen Cousin mit einer neuen Frau und seinen eigenen Kindern. Ich sah viele schöne Momente mit Brandon und Olivia. Ich sah meinen Bruder, der zu einem großartigen Mann heranwuchs.

„Ich will nicht nur träumen. Ich will leben. Leben! Hörst du, Oma?"

Ich schrie und schrie und schrie.

Das Ende steht in den Sternen *PAUSIERT*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt