Kapitel 35: Frei

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"ZURÜCK", brüllte Harriet durch den ohrenbetäubend lauten Schusswechsel und schubste mich neben sich in die kleine Nische. Wortlos griff sie nach weiterer Munition und ich wir luden unsere Waffen nach. Patronen sprangen von den dicken Steinwänden ab, feiner Staub vernebelte den engen Gang und der metallene Geruch nach Munition und Eisen hing in der Luft. Nun griff Harriet mich wieder am Arm und wir schossen um die enge Steinwand die Treppen hinauf, auf denen immer währende Soldaten zu sein schienen. Mehrere Tote oder Verletzte aus dieser räudigen Straßenbande lagen bereits auf dem Stein, ihr Blut umspülte unsere Sohlen. Meine Ohren fühlten sich taub an, meine Hände schmerzten vom Rückschlag und meine Augen brannten vom feinen Staub in der Luft.

Das konnte doch nicht ewig so weitergehen.

Warum nur hörten die Schüsse nicht auf?

Nichts fühlen.

Ich besann mich auf Harriets Worte und schrie, als ich die weichende Kraft meiner Finger und Hände spürte. Sie rutschten immer weiter vom Abzug und ich wusste, dass ich nicht mehr lange durchhalten konnte.

Für Chuck.

Das letzte bisschen Kraft riss an mir und ich schoss aus der Deckung hinaus. Harriet war kurz überrascht doch sie schnellte vor mir, packte einen Toten und hielt ihn als Schutz vor uns. Ich brüllte machtlos und schoss weiter und weiter, Silhouetten wichen und fielen. Ich würde nicht aufgeben. Nicht dieses Mal. Plötzlich spürte ich eine Präsenz hinter mir und erschrak. Eine Silhouette trat neben mich und peitschend laute Schüsse hallten von den Wänden wieder. Ich konnte mich nicht weiter zwingen, zu schiessen. Kraftlos sprang ich aus dem Gefecht in die Nische und beobachtete die Silhouette, die nur wenige Meter neben mir stand und weiter feuerte. Harriet warf mir einen überraschten Blick zu und ich blinzelte irritiert, als ich den Jemand erkannte, der uns half.

Daniel?

Hatte er uns nicht verraten? Konnten wir ihm vertrauen? Trotzdem griff ich nach neuer Munition und lud die heiße Waffe in meinen Händen nach. Danach strich ich mir über die schmerzende Haut zwischen Daumen und Zeigefinger, die gereizt brannte und ich konnte ein wenig Blut erkennen. "Fuck", zischte ich kaum hörbar durch den Schusswechsel und lehnte kurz vor Erschöpfung den Kopf gegen die Wand. Sekundenlang hallten die Schüsse von den Wänden wieder, ich fühlte mich bereits taub von dem ohrenbetäubend lauten Knallen, als plötzlich - Stille einkehrte. Nichts war zu hören außer angestrengtem Atem. Keine Schüsse. Vorsichtig lehnte ich mich hinter der Wand hervor und blickte die Treppe hinauf. Alles war in tiefen Nebel gehüllt, es stank nach Rauch, Moder und Stein. Im dichten Staub erkannte ich Harriet's Gesicht, das nun neben mir auftauchte. "Sie sind weg, Y/n. Sie sind tot", sprach sie und ich zog mir die Hände von den Ohren. Ich fuhr auf und ging auf Daniel zu, der an der Steinwand lehnte und sich über die verschwitzte Stirn strich. "Du ARSCHLOCH", brüllte ich durch die lähmende Stille. Meine Hand sauste in sein Gesicht und ich spürte die Haut unter meiner Faust. Unbändige Wut strömte durch meine Adern. Wegen ihm wären all die Lichter beinahe umsonst gestorben. Sie hatten sich für mich geopfert, für uns, damit wir den Ausgang fanden und frei waren. Und Daniel hatte das beinahe ruiniert. Erneut schlug ich auf ihn ein und er zog die Arme vors Gesicht, um sich abzuschirmen. Sofort trat ich ungeniert gegen sein ungeschütztes Schienbein und hieb mit der ungeladenen Waffe in seine Rippen. "Au! Ist ja- au! -Gut" Daniel tauchte unter meinen Armen durch und versteckte sich hinter Harriet. "Alles deine Schuld du Idiot!", wetterte ich und strich mir über die staubigen Klamotten, um mich etwas zu beruhigen. Dann warf ich mir die Waffe über die Schulter und stieg über die Leichen auf der Treppe. Je früher wir hier raus kamen, desto besser. Alles in mir schrie danach, zurück zum Auto in das sichere Lager des rechten Arms zu flüchten. Zu Newt und meinen Freunden. Hauptsache, ich müsste Daniels Rattengesicht nicht mehr ertragen. Ich tastete mich an der Wand entlang durch die Dunkelheit und den Staub, immer weiter nach oben gen Licht. Ich wusste, dass Harriet mir folgte denn ihr Atem strich ab und an durch die Stille. Meine Lungen schrieb nach frischer Luft, immer schneller wurden meine Schritte auf der engen Steintreppe. Endlich kam eine Lichtquelle in Sicht.

Der Ausgang.

Meine Beine erklommen die letzten Stufen und ich trat nach umsichtigen Blicken durch das Loch zurück in die enge Gasse. Die Dämmerung war bereits eingekehrt und viele Silhouetten in unerkenntlichen Klamotten durchwanderten die Straßen. Manche in Gruppen, Andere allein. Tief atmete ich den frischen Wind ein und schloss kurz die Augen, während ich Harriets Präsenz neben mir spürte. "Zurück zum Auto", murmelte die tiefe, weibliche Stimme und ich zog die Kapuze über, um ihr folgen zu können. Ich wollte nicht fragen, wo Daniel war. Ich wollte nicht wissen, ob er noch dort unten war. Ich wollte nicht wissen, ob er dort verrotten würde - denn er hatte es verdient. Uns ausgeliefert, wo wir doch nur Tage zuvor an WCKD verkauft worden waren. Von einer der engsten Vertrauten, die wir zu diesem Zeitpunkt gehabt hatten.

Teresa.

Dieses verdammte Miststück hatte uns verraten und nun auch noch Daniel. Die engsten Reihen, denen ich selbst am Meisten vertraut hatte. Teresa hatte sich meine Anerkennung hart erkämpft und es doch geschafft, ihren Verrat so tief in mein Herz zu bohren. Das Mädchen, das mich mehrere Male gerettet hatte, mich vor den Crank im Einkaufszentrum verteidigt hatte - war die größte Verräterin gewesen, a die ich mich erinnern konnte. Nur wegen ihr waren all die Immunen, all die Rebellen und Aris und Sonja tot - oder entführt. Und Minho auch. Zurück in WCKD's Gefangenschaft, gefoltert Tag und Nacht. Und Daniel hatte nichts daraus gelernt, selbst beinahe draufgegangen zu sein. Fest richtete ich meinen Blick auf Harriet's Rücken und folgte ihr durch die Straßen. Ich vertraute ihr mittlerweile mit meinem Leben, sie hatte sich bewiesen. Daniel verstand das Leben der Lichter nicht, den Zusammenhalt, den Kodex. Niemand würde einen anderen Lichter verraten, Teresa hatte nur nie dazu gehört. Keiner meiner Freunde würde mich verraten, und auch ihr würde mich eher foltern und töten lassen, als irgendetwas nützliches zu sagen. Harriet schleuste uns durch die Gassen und ich erkannte in der Ferne das verlassene Haus, hinter dem unser Auto lag. Nicht mehr lange und wir waren hier raus. Rasch wich ich einer Gruppe Männern aus und behielt Harriet's verstaubte Jacke fest im Blick. Immer weiter, immer in Richtung Heimat. Die Lichter waren mein Zuhause und ich konnte es kaum erwarten, sie unversehrt wiederzufinden. Unsere Schritte wurden schneller und ich atmete erleichtert aus, als wir durch die Büsche schlichen. Unser Auto stand unverändert an seiner Stelle. Glücklich sprang ich auf den Beifahrersitz und ließ Harriet einsteigen. "Na das hat sich mal richtig gelohnt, was?", fragte sie finster und startete den Motor mit ein paar Kabeln unter ihren Füßen. Mit erhobener Waffe starrte ich durch die Büsche und wartete aufmerksam auf mögliche Verfolger. "Aber richtig. Zeit, dass wir hier abhauen", stimmte ich dem hübschen Mädchen zu und sie wendete den stotternden Wagen. Wortlos drückte sie aufs Gas und ich lies die Waffe langsam sinken, während die letzte Stadt im zersplitterten Rückspiegel kleiner und kleiner wurde. Tief holte ich Luft und schloss die Augen, als mir Tränen der Erleichterung hochkamen. Wir hatten es lebendig geschafft, ohne Verletzungen aus der Falle herauszukommen. Ich spürte nicht den geringsten Funken von Schuld, Daniel zurückgelassen zu haben. Er hatte uns verraten, er hatte unsere Hilfe nicht verdient.

Verloren im Feuer Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt