üç | يطير

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Ceylin schloss die Haustür ab und ließ die Schlüssel in die kleine Schüssel auf der Kommode neben dem Eingang fallen.

Der Schock saß ihr noch sehr tief in der Brust, und um sich ein wenig zu beruhigen, lehnte sie sich an die Haustür und nahm einige Male tief Luft, bevor sie ihren Cardigan auszog und in die Küche eilte, um ihr Gesicht zu waschen. 

Der Gedanke daran, dass sie in eine Stadt mit mehr als einer halben Million Menschen gezogen war, nur damit ihr direkter Sitznachbar in der selben Siedlung wie sie wohnte, brachte sie fast zum lachen, so absurd war das ganze.

Einerseits hatte sie die Begegnung mit Jamal gerade ein wenig aus der Bahn geworfen, andererseits war sie auch froh, dass sie heraus gefunden hatte, dass er im selben Viertel wohnte, denn dadurch wusste sie, dass sie noch vorsichtiger sein musste als davor.

Wenn sie sich schon die Mühe gemacht hatte, den Umzug als einen Neubeginn zu nutzen, dann durfte ihr Plan nicht auffliegen, weil jemand in ihrer indirekten Nähe wohnt und sie somit verraten könnte. Sie war froh, dass er sie nicht gesehen hatte.

Als der erste Schock verflogen war und sie sich ein wenig beruhigt hatte, räumte sie das dreckige Geschirr im Waschbecken in die Spüle und fing an, die übrig gebliebenen Kartons in der Küche und im Wohnzimmer auszuräumen, die sie heute Mittag nicht mehr geschafft hatte.

Alleine aufräumen war schon immer eine Art Therapie für das junge Mädchen, und gerade jetzt, wo nirgendwo außer in der Küche Licht brannte und weit und breit kein Ton zu hören war,  genoss sie es, die Küche aufzuräumen.

Manchmal, wenn sie, wie heute Abend, eine lange Zeit alleine war, fing sie an, Gespräche mit sich selber zu führen, die niemand außer ihr je hören konnte.

Sie hatte auch nicht vor, je mit jemanden darüber zu reden, aber  manchmal hatte sie das Gefühl, in ihrem Kopf leben zwei verschiedene Menschen, zwei verschiedene Version von Ceylin Afet Kayhan, die durchgehend miteinander diskutierten, genau wie in diesem Moment auch.

Die eine Seite schrie schon seit heute Morgen in ihrem Kopf herum, dass sie doch versuchen sollte, ihre Mutter zu verstehen und ihr endlich zu verzeihen, während die andere Seite verzweifelt versuchte, Ceylan davon zu überzeugen, dass sie endlich ihren eigenen Weg gehen soll, und sie wusste mittlerweile einfach nicht mehr, wem sie zuhören und Glauben schenken sollte.

Vor einem Jahr hatte Ceylin angefangen, in einer Pizzeria in Herne zu arbeiten. Sie wurde nie bei einer Versicherung angemeldet und musste dadurch schwarz arbeiten, weshalb sie sich nicht gegen die schlechten Arbeitsverhältnisse wehren konnte.

Trotzdem hatte sie die Zähne zusammen gebissen und hat gearbeitet, bis ihre Füße wund wurden und sie drohte, umzufallen, nur damit sie genug Geld hatte, damit sie ihrem kleinen Bruder eins nach dem anderen seine Träume zu ermöglichen.

Seit sie vor ein paar Wochen durch Zufall herausgefunden hatte, dass ihre Mutter das ganze Geld, welches Ceylin über das letzte Jahr durch stundenlanges arbeiten angepasst hatte, einfach von dem gemeinsam Konto der beiden gebucht und an ihren Vater weitergegeben hatte, hatte sie jeglichen Wert in ihren Augen verloren und egal, was sie versucht, sie konnte Ceylins' Vertrauen seit diesem Tag nicht mehr für sich gewinnen.

Um das Geld zu verdienen hatte Ceylin sich selber an ihre Grenzen gebracht, nur um sie dann auch noch zu überwinden, und zu wissen, dass all diese Stunden, die sie nach der Schule aufgeopfert hatte, nur um ein wenig Geld für ihren Bruder zu verdienen, für einen arbeitslosen Systemsprenger verschwendet wurden, brachte ihr Blut zum kochen.

Alleine der Gedanke an das Chaos, welches damals Zuhause ausgebrochen war, brachte sie heute zum schaudern. Sie konnte sich selber nicht erkennen, zum ersten Mal wurde sie Opfer ihrer Wut und ließ sich von ihr steuern, was nur dazu führte, dass ihre Mutter ihr verletzende Sätze an den Kopf stieß, bis ihr Mund austrocknete.

𝐓𝐀𝐆𝐄𝐋𝐀𝐍𝐆 𝐑𝐄𝐆𝐄𝐍𝐓𝐑𝐎𝐏𝐅𝐄𝐍 | 𝐒𝐤𝐚𝐧𝐝𝐚𝐥Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt