Als Ceylin am nächsten Tag nach der Schule auf den Hof bog, nahm sie weiterhin summend ihre Kopfhörer ab und wollte sie gerade einstecken, als sie plötzlich eine kalte Hand an ihrer Schulter spürte und zusammen schreckte.
Mit einem perplexen Blick und leise fluchend drehte sie sich um und wollte gerade mit Jamal schimpfen, weil er sich einfach so an sie herangeschlichen hatte, als sie direkt in die dunklen Augen von Dalia starrte, die jetzt mit einem verwirrten Blick die Hand von ihrer Schulter zog und die Arme vor der Brust verkreuzte.
Ceylin atmete tief ein. Die letzten zwei Tage waren schon anstrengend genug für das junge Mädchen gewesen, und Dalia auch noch außerhalb der Schule zu sehen stand sicherlich nicht auf der Liste mit Dingen, die sie sich für diesen Donnerstag gewünscht hatte.
"Was machst du hier?", fragte Dalia mit einer aufrichtigen Neugier und trat einen Schritt zurück.
"Wieso fragst du mich das?", antwortete sie ein wenig zickiger als beabsichtigt und spielte nervös mit den Kopfhörern in ihrer Hand, die sie immer noch nicht weggepackt hatte.
"Ich habe doch einfach nur eine Frage gestellt?"
"Ich wüsste aber nicht, inwiefern die Antwort wichtig ist?"
Dalia zog die Augenbrauen zusammen und neigte den Kopf ein wenig zur Seite, bevor sie Ceylins Gesicht mit zusammengekniffenen Augen musterte, als würde sie versuchen, die Antwort aus ihren Augen zu lesen. Ceylin bemühte sich, so leer und emotionslos wie möglich zu schauen, denn sie wollte Dalia auf keinen Fall das geben, was sie wollte.
"Du bist richtig unfreundlich und zickig, hat dir das schonmal jemand gesagt?", erwiderte Dalia schnippisch, was Ceylin nur noch mehr irritierte.
"Du kennst mich nicht einmal, und möchtest mir jetzt sagen, was für ein Mensch ich bin?"
Es kostete Ceylin wirklich unfassbar viel Kraft, so ignorant und gemein zu reden, aber sie musste. Sie hatte keine andere Wahl. Nicht, wenn sie sich selbst schützen wollte.
"Glaub' mir, diese zwei Tage mit dir haben mir schon gereicht, damit ich dich einschätzen kann."
"Dalia", seufzte sie jetzt erschöpft und machte einen Schritt auf sie zu. "Ich weiß wirklich nicht, ob du mir bis hierhin gefolgt bist, um mir zu sagen, was für einen schwachen Charakter ich habe, aber wenn du fertigt mit deiner Standpauke bist, würde ich gerne weiter."
"Ich bin dir nicht gefolgt", unterbrach Dalia sie und machte ebenfalls einen Schritt auf sie zu. "Aber das du einen schwachen Charakter hast, kann ich dir gerne auch dreimal sagen. Du benimmst dich richtig frech, schließlich habe ich dich nur etwas gefragt."
Ceylin ballte ihre freie Hand zu einer Faust und biss die Zähne zusammen. Es kostete wirklich jeden Muskeln in ihr, nicht auf dumme Ideen zu kommen und Dalia zu blamieren, in dem sie ihren wahren Charakter darlegte.
Wie konnte ein Mensch nur so verlogen und dreist sein? Sie konnte es einfach nicht verstehen? Wenn Dalia doch die Schule wegen schweren Mobbing gewechselt hat, wieso hält sie sich diesmal nicht einfach ein wenig zurück und muss gleich wieder in alte Verhaltensmuster fallen?
"Wenn du fertig bist, gehe ich jetzt", wiederholte sie und zog die Ärmel ihres Pullovers über ihre Hände. "Ich habe noch sehr viel zutun."
Dalia zog fragend die Augenbrauen zusammen und verkreuzte erneut die Arme vor der Brust, bevor sie anfing, wie ein pubertierender Teenager zu lachen und sich die dunklen Haare aus dem Gesicht strich.
"Was habe ich dir vor zwei Tagen gesagt? Als du im Flur mit Nilo warst?"
Ceylin atmete tief ein und wandte ihren Blick von Dalias knochigem Gesicht ab, und schaute stattdessen an ihr vorbei, zu den kleinen Kindern, die eingekuschelt in ihren dicken Jacken auf dem Hof umher rannten. Sie wollte einfach nur nach Hause und sich ausruhen, das war alles. Sie wollte sich nicht streiten, sie wollte sich nicht rechtfertigen, sie wollte gar nichts. Nur schlafen.
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𝐓𝐀𝐆𝐄𝐋𝐀𝐍𝐆 𝐑𝐄𝐆𝐄𝐍𝐓𝐑𝐎𝐏𝐅𝐄𝐍 | 𝐒𝐤𝐚𝐧𝐝𝐚𝐥
RomanceNach der Trennung ihrer Eltern findet die 17-jährige Ceylin Afet Zuflucht in einem Essener Plattenbauviertel. Um ihr altes Leben endgültig hinter sich zu lassen und neu zu starten, verfremdet sie ihre Identität an ihrer neuen Schule und verschleiert...