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Zaghaft klopft Noah an der Tür, die beschriftet ist mit ‚Direktor Herr Jong Hi Chung'. In der Hand hält der blonde Junge eine Klarsichtfolie mit alten Zeugnissen, Geburtsurkunde und Personalausweis. Natürlich alles unter dem Namen ‚Noah Temel'. Zur selben Zeit ist Philip in einem Café und bemüht sich um einen Job als Barista.

Inzwischen sind seit ihrem ‚Umzug' etwa 6 Wochen vergangen. Sie haben eine kleine 1-Zimmerwohnung gefunden, die in ihrem Budget liegt und weitere Schritte besprochen. Wie erwartet haben ihre Eltern ihre alten Konten sperren lassen. Gut, dass sie vorher all ihr Geld sich haben auszahlen lassen. Wie Philip vorausgesagt hat, es wird erstmal reichen.

In einer Woche fängt das neue Schuljahr an und endlich können sie sich an einer Schule bewerben.

„Herein", vernimmt Noah, also drückt er die Klinke nach unten und tritt in das Direktorat. Es ist ein großer heller Raum, die Wände sind bedeckt mit Regalen, in denen sich die Ordner stapeln. An einem Schreibtisch, der in der Mitte des Raumes steht, sitzt ein Mann, der nicht älter als 45 sein kann. Er lächelt Noah zu und deutet ihn an, sich auf einen Stuhl zu setzten. Der Stuhl besteht aus Metallbeinen und einem Fake-Leder-Sitzbezug. Noah setzt sich vorsichtig auf die Kante. 

„Guten Tag, Herr Chung", begrüßt er den Direktor vornehm und hält ihm die Hand hin. Herr Chung schüttelt sie direkt. „Ich habe Ihnen ja schon vor ein paar Tagen eine Mail geschrieben. Ich würde mich an dieser Schule anmelden", erklärt Noah und fühlt sich wohl genug auf dem Stuhl noch ein Stückchen nach hinten zu rutschen. 

„Ich weiß. Ich bräuchte dafür einmal den Personalausweis, Zeugnisse und die Einwilligung Ihrer Erziehungsberechtigten". Noah legt die Dokumente auf die Arbeitsfläche des Schreibtisches. 

„Brauch ich eine Einwilligung meiner Eltern, wenn ich schon volljährig bin?", fragt Noah. Wenn er die braucht, kann er auch direkt wieder gehen. 

„Wenn Sie schon volljährig sind, dann ist das nicht notwendig", bestätigt Herr Chung und innerlich seufzt Noah auf. Zum Glück. Herr Chung überprüft die Dokumente, verlangt noch ein paar persönliche Angaben und trägt diese auf seinem Computer ein.

„Okay, ich denke, dass wir alles haben. Dadurch, dass Sie vorher auf einer Realschule waren, haben wir Sie in der zehnten Klasse untergebracht. Sie erhalten per Mail noch zusätzliche Informationen von meinem Kollegen Herr Zech". Noah nickt dankbar. Es ging alles reibungslos über die Bühne, was ihn selber etwas überrascht. Etwas in seinem Leben läuft nicht schief, das kommt eher selten vor.

Zufrieden geht er nach Hause, wo schon Philip auf ihn wartet. Da sie doch nicht genug Geld hatten, um ihre Wohnung einzurichten, schlafen sie auf einer großen Matratze, die sie auf Ebay gekauft haben. Dazu haben sie noch einen Campingkocher, ein paar Teller und etwas Besteck. Sie haben Glück gehabt, dass ein Spülbecken, ein Kühlschrank und ein komplettes Badezimmer schon dabei waren. Es ist nicht viel, was sie nun besitzen, aber es ist durchaus ausreichend. 

Philip sitzt zufrieden auf der Matratze und scrollt auf seinem Handy herum, als er hört, wie die Tür geöffnet wird. Sofort springt er auf, um Noah zu begrüßen. „Hey, wie lief's?", fragt er direkt aufgeregt und springt Noah förmlich an. 

„Lass mich doch erstmal meine Schuhe ausziehen", sagt Noah und tritt sich seine Boots von den Füßen. Philip hat noch nicht verstanden, warum er diese auf im Hochsommer trägt, obwohl es Winterschuhe sind. Noahs einziges Argument dafür ist, dass sie einfach zu bequem sind. Philip bleibt da lieber bei seinen Vans.

Genau 3 Sekunden wartet er, dann fragt er erneut: „Wie lief's denn nun?". Ungeduldig tänzelt er etwas vor Noah herum. „Es lief alles super, wir sind drin", eröffnet der ältere Zwilling glücklich und wird direkt in eine Umarmung geschlossen. „Perfekt. Wir haben auch den Job bekommen. Ab nächster Woche geht es los". Noah strahlt seinen Zwilling glücklich an. Sie bauen sich ein eigenes Leben auf, ganz ohne ihre Eltern. Noah fühlt immer mehr, wie die Freiheit ihn wie eine warme Decke einhüllt.

Philip legt seine rechte Hand plötzlich auf sein Herz, Noah tut es ihm gleich. Unter dem Stoff ihrer Shirts verbergen sich dort nämlich Tattoos, die sie sich zu ihrem Geburtstag haben stechen lassen. Beide haben eine Ente, mit einem kleinen Blütenzweig, allerdings trägt Philips eine Sonnenbrille. Sie beide fanden diese Motiv perfekt für sich.

„Egal, was passiert, wir sind füreinander da", flüstert Philip und ohne zu zögern wiederholt Noah die Worte.

„Füreinander da".  

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt