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Ihre Herzen schlagen schnell, ein wenig zu schnell. Ihre Körper haben Gänsehaut und kribbeln, dort wo sie sich berühren. Ihre Haare sind durcheinander, nachdem sie minutenlang nichts anderes getan haben, als dadurch zu streichen. Ihre Köpfe sind wie in Watte gehüllt. Ihre Münder unterhalten sich ohne Worte, sie sind ganz im Einklang. Ihre Augen fahren ihre Gesichter entlang, erkunden jede Zelle, die sie sehen können. Sie zählen ihre Wimpern, kleinste Details, die sie erkennen. Ihre Finger spielen in der Luft über ihnen, während ihre Augen folgen und wachsam über jede Bewegung herrschen.

„Du bist wunderschön", sagt Colin zwischen zwei sanften Küssen und schaut in die tiefen, hellen blauen Augen seines Freundes. Noahs Wangen werden rot und er senkt den Kopf, um ihn zu verstecken. Colin lacht leicht und steckt seine Nase in die blonden Haare von Noah. Er atmet tief ein, nimmt den Geruch mit jedem Nerv seines Körpers auf und prägt ihn sich ein, sodass er ihn nie wieder vergisst. Dann drückt er ihm noch einen Kuss auf den Kopf, ehe er ihn wieder ansehen kann. 

„Du bist mir unglaublich wichtig", murmelt er und drückt seine Lippen wieder auf Noahs, der den Kuss natürlich direkt erwidert und sie die Welt wieder vergessen können. Ihr Blut fließt wie Honig durch ihre Körper, verklebt ihr Gehirn, lässt sie vergessen wie man denkt.

Eine halbe Stunde vergeht. Sie bewegen sich keinen Zentimeter, liegen dicht zusammen auf der Matratze und lassen die Zeit ohne Sorgen an sich vorbei streichen. 

„Noah. Du hast mir nie gesagt, warum du allein mit Philip hier wohnst. Ich zwing dich nichts zu sagen, aber ich frag mich, wie viel ich nicht von dir weiß". Noah antwortet nicht direkt. Er wusste irgendwie, dass er Colin seine Vergangenheit für immer vorenthalten kann, vorallem, wenn sie länger zusammen bleiben. Irgendwann will der Lockenkopf Antworten. 

„Du weißt nicht viel von mir, weil... weil ich nicht will, dass du weißt, wie kaputt ich bin", erklärt Noah. Colin streicht eine blonde Strähne hinter sein Ohr. 

„Ich kann dir erst helfen, wenn ich weiß, wo ich anfangen muss. Ich kann nicht wild drauf los raten und hoffen, dass ich irgendwann mal richtig liege". 

„Ich bin nicht der Typ Mensch, der mit anderen über seine Probleme oder Vergangenheit spricht. Ich hab mein altes Leben zurück gelassen, mein Leben ist hier. Mit dir und Philip in Erfurt". 

„Du kannst keinen Teil einfach hinter dir lassen. Ich weiß genau, wovon ich spreche. Ich hab es zu lange probiert, aber jedes Mal hat es mich wieder eingeholt. Und das ist der wahre Schmerz. Schmerz geht nicht, aber du kannst versuchen, damit zu leben und ihn als Teil von dir anzusehen". 

Noah schweigt. Er weiß, dass Colin recht hat. Seine Vergangenheit ist da, war es und wird es für immer sein. Er kann nicht kontrollieren, wann sie für ihn relevant ist, wann er sie nicht vergessen will. 

„Ich hab dir gesagt, das meine Eltern gestorben sind", fängt Colin auf einmal an. 

„Du musst nicht", versucht Noah ihn aufzuhalten. Er möchte Colins Geschichte hören, aber nur wenn der Lockenkopf will, dass er sie hört. Sie haben Zeit. 

„Ich will. Also, lass es mich erzählen". Colin schließt die Augen, entscheidet, wie er am besten anfängt. „Meine Eltern waren wahrscheinlich die besten, die man haben kann. Sie hatten einen kleinen Bauernhof mit ein paar Hühnern und Schafen. Meine Mama war Bäckerin und mein Papa hatte den ganzen Hof geschmissen. Ich hab ihm viel geholfen, also so gut ich halt konnte. Und meine Mama hat das beste Gebäck der ganzen Stadt gemacht und ich habe immer den Teig naschen dürfen und ich hatte wahrscheinlich eine perfekte Kindheit. Bis zu dieser einen Nacht. Ich weiß nicht mehr so viel, es ging alles so schnell. Ich weiß nur, dass ich Rauch aus ihrem Zimmer gesehen hab und sie haben mir beigebracht, dass das meistens Feuer heißt. Also bin ich rausgerannt mit dem Handy von meiner Mama und hab die Feuerwehr gerufen. Ich weiß bis heute nicht, wie ich daran denken konnte. Aber als sie kamen, war es schon zu spät. Unser Haus ist in der Nacht komplett verbrannt und unser Hof existiert nicht mehr. Unsere Hühner und Schafe wurden verkauft und ich kam ins Heim. Ich hab mein Leben in dieser Nacht verloren und ich weiß nicht wie viele schlaflose Nächte ich hatte, weil ich immer wieder dachte, dass das Feuer wieder ausbricht. Manchmal bilde ich mir sogar noch ein, den Rauch riechen zu können". 

Colin hat bei der Geschichte zu weinen begonnen. Die ganze Geschichte ist schlimmer als der bloße Fakt, dass seine Eltern gestorben sind. Hinter dem Leben stecken so viele Dinge. Vorwürfe, weil er nicht nach seinen Eltern geschaut hat, dass er nicht auch gestorben ist. Er hatte nur dummes Glück. Und die Gedanken folgen ihm wie ein dunkler Schatten an einem sonnigen Tag. 

Noah zieht den Lockenkopf näher an sich, fängt seine Tränen auf und muss sich zurückhalten, nicht selber in Tränen auszubrechen. Sanfte Küsse verteilt er auf Colins Kopf, streicht mit seinen Armen die Arme von Colin auf und ab und auf und ab, bis irgendwann der Tränenfluss versiegt ist. 

„Ich zwing dich nicht, mir direkt von dir zu erzählen und auch nicht alles. Ich will dir nur sagen, dass ich dir immer zuhören werde, ich will, dass du weißt, dass ich da bin. Du sollst reden, wenn du bereit bist. Ich wollte dich damit wirklich nicht unter Druck setzten". 

„Ich will", meint Noah nur leise. „Zumindest ein wenig. Nicht alles". Colin nickt, streicht sich ein letztes Mal über die Wangen, auf denen die Tränenspuren noch sichtbar sind. Noah schluckt, sein Adamsapfel hüpft ein wenig. 

„Ich wurde zu Hause rausgeschmissen, als ich mich geoutet hab. Ich hab irgendwie echt gedacht, dass meine Eltern mich vielleicht akzeptieren können. Haben sie nicht. Mein Erzeuger hat mich angeschrien, das ich verschwinden soll und meine Erzeugerin hat einfach nur laut geheult. Ich werde ihr schluchzen wohl nie vergessen, wie sich wünscht, dass beide ihrer Söhne normal sind. Sie hat viel gebetet an dem Tag, dass Gott mir diese Sünde doch verzeihen möge und hat mich angefleht, diese Phase zu vergessen. Dann hat mein Erzeuger meine Tasche vor die Tür gestellt und mir befohlen für immer zu gehen. Bin ich dann auch. Ich saß eine halbe Stunde etwa 100 Meter entfernt von dem Haus, als Philip mir nachgerannt kam. Er hatte Taschen und Rucksäcke mit. Seine Worte werde ich nie vergessen. ‚Du wirst doch nicht ohne deinen Lieblingszwilling rausgeschmissen'. Und dann sind wir hierher. Unsere Erzeuger wissen nicht, wo wir sind". 

Jetzt ergibt alles Sinn für Colin. Das Telefonat, dass er von Philip mitbekommen hat. Warum seine Mutter nur von Philip und nicht von Noah geredet hat. Colin erwähnt es mit keinem Wort, während er nun Noah tröstet. Der Blonde hat seine Geschichte mit Gleichgültigkeit erzählt, keine Tonlage in seiner Stimme, die Traurigkeit zulässt. Er hat mit seinen Eltern abgeschlossen, als das Abhauen noch lange nicht da war. 

„Es ist doch unfair", sagt Noah leicht wütend, „deine Eltern waren wahrscheinlich die tollsten Menschen und sind tot, während meine die größten Arschlöcher sind und einfach weiterleben". 

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt