28

270 15 3
                                    

Colin kommt am späten Abend wieder in seinem Heim an. Er hat Pia eine ungefähre Zeit geschrieben, wenn er wieder da sein wird und, wie immer, hält er sich auch daran. 

Pünktlich drückt er die Tür auf und betritt den Gemeinschaftsraum der Jüngeren. Timon und Hanna sind gerade dabei etwas aufzuräumen, während noch einzelne Kinder im Zimmer sind. Die Störenfriede sieht Colin jedoch nicht, also müssen diese schon auf dem Zimmer sein. Er sagt den beiden Betreuern ein schnelles ‚Hallo' und verschwindet dann wieder im Flügel der ‚Großen'. 

Niemand ist im Gemeinschaftsraum oder der Küche, also kann Colin sich ungestört etwas zu essen zubereiten. Nach 5 Minuten, in denen er hauptsächlich Zutaten geschnitten hat, gesellt sich Pia zu dem Jungen. 

„Hey, Colin", begrüßt sie ihn und lehnt sich an die Theke. Sie ist stolz auf den Jungen, jedes Mal, wenn sie ihn sieht. Er hat sich großartig entwickelt. Pia wird nie vergessen, wie er am Anfang war. Verschlossen, traurig, einsam. Und nun ist er ein fröhlicher und selbstbewusster junger Mann. Sein Trauma verfolgt ihn noch und wird ihn auch immer verfolgen, aber er kommt damit klar, hat akzeptiert, wie es gekommen ist. 

„Hi", bekommt sie als Antwort zurück. Colin konzentriert sich darauf, sich nicht in den Finger zu schneiden und schaut Pia nicht an. Es ist lange her, dass sie so zusammen in der Küche standen und redeten. Colin vermisst diese Zeit unheimlich und er fühlt sich das erste Mal allein im Heim. 

„Wie gehts dir, Kleiner?", fragt Pia und versucht Augenkontakt mit ihrem Schützling aufzubauen. Sie kann sich vorstellen, dass Colin etwas sauer auf sie ist. Sie weiß doch selbst, dass es stressig ist und sie sich eher um die Problemkinder kümmern muss, vorallem die jüngeren. 

„Ganz gut", meint Colin kurz angebunden. 

„Colin, siehts du mich mal bitte an", bittet Pia ihn nun und endlich legt Colin sein Messer weg. Seine grünen Augen treffen ihre und sie sieht, dass Colin den Tränen nah ist. Offenbar ist es doch schlimmer als sie dachte. 

„Was ist los, Colli?", fragt sie einfühlsam und tritt einen Schritt näher an den Jungen. Colin lässt es zu und sucht nach passenden Worten, um ihr zu antworten. 

„Weiß nicht. Alles", antwortet er schließlich nichts-sagend und zuckt dabei mit den Schultern. Die Tränen hat er herunter geschluckt, bevor sie hervor kommen können. 

„Colin, du kannst mit mir reden. Ich bin hier, um dir zuzuhören, okay". Colin überlegt, wo er anfangen soll. Er will Pia gerne alles erzählen, was bei ihm los ist, aber er selbst bekommt seine Gedanken nicht geordnet. 

„Ich weiß. Es ist nur sehr kompliziert", erklärt er langsam und leise. Pia streicht sich eine braune Strähne hinter ihr Ohr und schaut ihn abwartend an. Sie merkt, dass Colin mit ihr reden will und sie gibt ihm Zeit, wird nicht nachfragen oder ihn drängen. 

„Wir haben seit Anfang des Schuljahrs einen neuen Jungen", beginnt er nun. Er wird erstmal von Noah erzählen und dann wird er zu dem Punkt kommen, warum er immer seltener im Heim ist. Pia lächelt in sich hinein. Sie hat ein Gefühl in welche Richtung das laufen wird. „Er heißt Noah", erzählt Colin weiter und muss unterbewusst bei der Erwähnung des Namens lächeln, „und wir sitzen nebeneinander. Er ist irgendwie besonders. Ich fühl mich so wohl in seiner Nähe und... und wenn er da ist, dann ist einfach alles wunderschön". Pia wusste, dass Colin etwas in diese Richtung erzählen wird, sobald sie das Lächeln auf seinen Lippen gesehen hat und sie hat Recht behalten. 

„Klingt so, als hätte dieser Noah dir dein kleines Köpfchen verdreht", meint sie grinsend. Röte schießt in Colins Wangen und er sieht leicht beschämt zu Boden. 

„Und hast du es ihm gesagt?", fragt sie neugierig weiter. 

„Wir haben drüber geredet. Er meinte, er weiß nicht, was er fühlt und dass ich ihm Zeit geben soll", erklärt der Lockenkopf und Pia streicht ihm leicht über den Arm. 

„Das wird schon alles, Kleiner", meint sie zuversichtlich. ‚Kleiner' ist Colins Spitzname, den nur Pia benutzt. Auch wenn Colin ein beachtliches Stück größer als sie ist, wird sie den Namen nicht ablegen. 

„Aber das ist nicht das einzige, was du mir sagen willst, stimmt's?", fragt sie und wartet auf eine Antwort, die lange Zeit nicht kommt. 

„Ich fühl mich allein", antwortet Colin nach einigen Minuten und schaut bewusst Pia nicht an. Sie hat schon etwas in diese Richtung erwartet, wenn sie ehrlich mit sich ist. „Ich fühl mich, als würde ich hier keinen Platz mehr haben und als wäre ich überflüssig. Ich bin in einem Ort verloren, den ich lange Zeit als zu Hause angesehen habe", erklärt Colin und Pia nimmt ihn in den Arm. 

„Es tut mir so Leid, Colin. Ich weiß, dass das meine Schuld ist. Ich hab dich wirklich etwas im Stich gelassen". Pia erklärt Colin noch mehr von ihrer Perspektive, genauso wie Colin ihr seine Situation verdeutlicht. Sie weinen etwas, spenden sich gegenseitig Trost und sind endlich mal wieder beieinander. 

„Ein was musst du wissen, Colin. Du bist nicht überflüssig oder allein, versprochen", meint Pia und nimmt ihren Schützling noch einmal in den Arm. Colin lächelt. Alles, was Pia ihm erklärt hat, hat er sich auch schon gedacht. Viele Kinder, wenig Betreuer und viel Stress. Er geht in dem Chaos unter.


„Ich habe übrigens noch eine Pflicht, der ich nachkommen muss", meint Pia auf einmal und Colin sieht auf. 

„Wenn du mit Noah zusammen kommst, muss ich dich aufklären", erklärt sie und grinst böse. Sie hat Jahre lang darauf gewartet, diesen Satz gegenüber Colin benutzen zu können und nun ist es soweit. 

„Nein, Pia. Bitte nicht", meint er nur gequält und legt das Gesicht wehleidig in die Hände. 

„Oh doch, Kleiner. Was muss, das muss". Auf Colin kommt ein Gespräch zu, das er echt nicht gebraucht hätte. Zumindest noch nicht zu diesem Zeitpunkt. Und es wird noch peinlicher als er erwartet hat. 

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt