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Am Montag steht Joel wie gewohnt früh auf, macht eine halbe Stunde Yoga, um richtig wach zu werden und frühstückt dann mit seinen Schwestern. Sein Vater ist am Sonntag wieder ins Krankenhaus zu seiner Mutter gefahren und hat Alva und Joel die Verantwortung übertragen. Dabei hat er natürlich nicht bedacht, dass weder seine Tochter, noch sein Sohn einen Führerschein besitzen. 

Also musste Alva ihre Oma anrufen, die sich zum Glück bereit erklärt hat, sie zur Schule zu fahren. Erst werden Wilma, Amalia, Nora und Madita bei der Grundschule abgesetzt und dann Joel und Alva an ihrer Schule. 

„Danke fürs Fahren, Oma", bedankt sich Joel und rutscht vom Rücksitz. Alva hat sich schneller den Beifahrersitz geschnappt und sie hatte es während der Fahrt deutlich bequemer als er. „Danke dir", bedankt sich Alva auch und folgt ihrem Bruder aus dem Auto. 

„Ich hol euch dann wieder ab, habt einen schönen Tag", ruft Wilhelmine den beiden hinterher und winkt leicht. Joel und Alva tun es ihr gleich und verschwinden dann mit all den anderen Schülern im Schulgebäude.

Im Zimmer wird Joel bereits von Colin erwartet und von dem Lockenkopf in eine sanfte Umarmung gezogen. 

„Es ist schön, dass du wieder da bist", flüstert er dem Jungen ins Ohr und lässt dann wieder von ihm ab. Joel setzt sich flink auf seinen Platz in der ersten Reihe und stellt sich dann zu Julias Tisch. Auch von der Blondine wird er in den Arm genommen. Ava schenkt ihm nur ein Lächeln und ein halbherziges ‚Hallo'. Joel merkt somit, dass sie in ihr Spiel vertieft ist und lieber nicht gestört werden sollte. 

„Wie gehts dir?", erkundigt sich Julia. 

„Geht so. Hab lang nicht mehr wirklich geschlafen", meint Joel und zur Bestätigung gähnt er. Colin wird von ihm angesteckt und hält sich die Hand vor den Mund.

In der zweiten Pause setzt sich Colin zu seinem besten Freund. „Wie gehts dir wirklich?", fragt er leise und bedacht, dass sie nicht so offensichtlich sprechen. Joel liest sich gerade den Stoff für die nächste Stunde durch und schaut nach der Frage einfach in die Luft. Ihm war klar, dass Colin weiß, dass es nicht nur die Müdigkeit ist, die ihm auf den Schultern lastet. Ein paar Minuten schaut er schweigend in die Luft, dann senkt er den Kopf. 

„Ich hab Angst", beichtet er dann leise, „Was, wenn sie nicht mehr aus dem Koma aufwacht?". Colin wusste keine Antwort auf die Frage und dann schaut Joel ihn an. „Was ist, wenn sie nicht mehr aufwacht und Papa durchdreht und ich und Alva uns dann um alles kümmern müssen. Ich verzweifle doch jetzt schon". 

Colin antwortet nicht, nichts fühlt sich richtig an. Stattdessen legt er eine Hand auf Joels Schulter und drückt diese fest. Dankbar schaut Joel seinen besten Freund an und versucht ein winziges Lächeln.

Wie angekündigt holt Wilhelmine Alva und Joel pünktlich nach Unterrichtsschluss ab. Sie steht mit ihrem Auto auf einer Seitenstraße neben der Schule. Joel beeilt sich diesmal etwas, damit er nicht wieder auf der stickigen Rückbank sitzen muss. 

Wie geplant schafft er es sich auf den Vordersitz neben seine Oma zu werfen und Alva steigt hinten ein. Sie fahren zum Hort ihrer Schwestern und laden die 4 Mädchen mit auf, ehe sie nach Hause fahren. Wilhelmine verabschiedet sich an der Haustür von ihren Enkeln, da sie selber noch Einkaufen muss und ihre 3 Katze sie vermissen würden. Alva, Joel, Wilma, Amalia, Nora und Madita nehmen das einfach hin und verschwinden in dem Einfamilienhaus. 

Das erste, was Joel macht, ist sich umzuziehen. Er zieht sich seinen Pulli über den Kopf. Im Spiegel betrachtet er sich selbst. Die Narben unter seiner Brust zeichnen sich noch stark ab, aber er liebt sie trotzdem. Sie zeigen einen Teil seiner Reise und sie zeigen, dass er sich endlich wohl in seinem Körper fühlt. Seine Eltern hatten Bedenken, den Eingriff schon so früh zu machen, allerdings ist Joel so glücklich wie noch nie. 

Er fährt vorsichtig über die linke Narbe, ehe er sich ein großes Shirt schnappt und es sich über den Kopf zieht. Dann eilt er wieder nach unten zu seinen Schwestern. 

Wie er hört, hat Alva die Kaffeemaschine bereits eingeschaltet und die Kekse, die sie vor ein paar Tagen gebacken haben, auf die Anrichte gestellt. Ihre 4 Schwestern sitzt ordentlich auf den Barhockern, trinken Kakao und erzählen aufgeregt von ihrem Tag. Alva hört aufmerksam zu und auch Joel, der sich zu seiner großen Schwester stellt, lauscht den Geschichten der Grundschülerinnen. Dabei sieht er sich die Gesichter seiner Schwestern an. Er ist fasziniert, wie gleich sie sich alle sehen. Natürlich hat er ihnen früher noch mehr geähnelt, aber das sie Geschwister sind, ist weiterhin unverkennbar. Er und Alva wurden sogar schonmal für Zwillinge gehalten. 

Der Kaffee ist fertig und Alva gibt ihm eine der Tassen, die andere behält sie selber. Joel nimmt einen großen Schluck und achtet darauf sich daran nicht die Zunge zu verbrennen. 

Nach dem kurzen Kaffeetrinken gehen alle in ihre Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Alva und Joel haben jeweils ihre eigenen Zimmer. Wilma und Amalia teilen sich das am Ende des Gangs auf der rechten Seite, gegenüber von den beiden haben Nora und Madita ihr Reich. Eigentlich hätten sich auch Alva und Joel ein Zimmer teilen müssen, damit sie ein Gästezimmer haben, aber seit Joels Outing musste er sich kein Zimmer mit seiner Schwester mehr teilen. 

Joel setzt sich an den Schreibtisch und fängt mit Mathe an. Alle paar Minuten kommt eine seiner Schwestern ins Zimmer und lässt sich die Hausaufgaben von Joel überprüfen. 

Seinen Vater bekommt Joel nicht mehr zu sehen. Vielleicht wird seine Vermutung schon jetzt wahr. 

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt