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Joel tritt durch früh am kühlen Samstag durch die gläsernen Schiebetüren des Krankenhauses. Er will mal wieder seine Mutter besuchen, nach der anstrengenden Woche. Das Krankenhaus riecht penibel nach Desinfektionsmittel und blauen Kitteln. Joel rümpft die Nase. 

Neben ihm verlässt ein paar mit einem Neugeborenen auf dem Arm das Krankenhaus. Gedanklich wünscht Joel dem Kind viel Glück. Auf dieser Welt kann man es gebrauchen. Ein weiteres Paar verlässt das Krankenhaus. Ein alter Mann, der seine Frau im Rollstuhl hinaus schiebt. Joel macht sich schmerzlich bewusst, was Krankenhäuser bedeuten können. Neue Leben beginnen und alte enden. Es wird mit Schmerz gekämpft und Freude geteilt. An diesem Ort kann man jegliche Emotionen spüren. Und am Ende muss man hoffen. Hoffen auf ein Happy End. Hoffen, dass alles gut wird. 

Joel hat sich den Weg zur Intensivstation gemerkt und steigt zielstrebig in den leeren Aufzug, um dorthin zu gelangen. Oben geht er wieder an den Tresen. Diesmal sitzt dort eine junge Frau, die ihm nett zulächelt, als er bereits seine Ausweise zu ihr schiebt. 

Sie nimmt erst den Ergänzungsausweis zur Hand, sieht ihn kurz an und überprüft dann noch den zweiten. Dann winkt sie Joel hinter sich her. Leise atmet er auf, zum Glück hat diesmal alles geklappt. 

Die Frau begleitet ihn bis zu Zimmer 38 und drückt für ihn die Klinke hinunter. Sie bleibt allerdings draußen stehen, während Joel in das weiße Zimmer geht und die Tür sanft hinter sich schließen hört. 

Mit bedachten Schritten geht er zu seiner Mutter und schaut sie an. Ihr Gesicht ist blass und etwas eingefallen, ihre Augen geschlossen, so wie der Mund. Die Monitore, an denen sie durch Kabel gebunden ist, piepen regelmäßig und zeigen Herzschlag, Puls und weitere Werte an. Offenbar ist gerade alles im grünen Bereich. 

Joel sieht wie sich der Brustkorb seiner Mutter minimal hebt und senkt, wie ihre Atmung langsam, aber stetig und regelmäßig ist. Vorsichtig nimmt er die kalte, blasse Hand seiner Mutter in seine und drückt sie leicht. 

„Hallo Mama", flüstert er erstickt. Er erhält keine Antwort. Joel zieht sich einen Stuhl an das Bett, lässt die Hand dabei aber nicht los. Kurz schaut er sie schweigend an, ehe er einfach zu reden beginnt. 

„Hier ist Joel, mal wieder. Ich brauch deinen Rat". Wieder keine Antwort. Joel erwartet auch keine, er hofft bloß auf etwas Ordnung in seinem Kopf. Das braucht er gerade sehr dringend. 

„Es gibt diesen einen neuen Jungen in unserer Klasse und er ist unausstehlich", erzählt der Brillenträger. 

„Er will immer, dass alle nach seiner Pfeife tanzen. Wenn das nicht passiert, dann streikt er komplett. So ist er meistens. Manchmal ist er aber auch richtig leise und widerspricht nicht. Aber dann ist er wieder aufmüpfig und frech und laut und einfach unerträglich. Zech hat uns einen Vortrag zusammen aufgehalst. Und er kümmert sich oft um die Mädchen. Die lieben ihn, freuen sich immer total, wenn er kommt. Auch Alva. Sie spricht ständig von ihm und ich kann seinen Namen langsam echt nicht mehr hören. Jedes Mal stiegt dieses Gefühl dann in mir auf, meine Hände schwitzen und mir kommt's hoch, so sehr kribbelt es im Bauch. Das ist doch nicht normal, wie sehr ihn alle lieben, nur ich nicht. Irgendwas an ihm ist total komisch, aber ich bekomm einfach nicht zusammengereimt, was genau. Ich würde ihm einfach gerne den Hals umdrehen". 

Joel erzählt alles von Noah, was ihm noch einfällt. Wie er mit Alva umgeht und mit seinen anderen Schwestern spielt. Wie er in seinem Zimmer herumgeschnüffelt hat, wie groß seine Angst ist, dass er sein Geheimnis rausfindet. Joel hat schon alle möglichen Reaktionen auf sein Outing bekommen, die von Noah muss er nicht wissen. Er erzählt noch ein wenig von der Schule, von seiner Therapie und auch von Colin. 

„Ich vermisse dich", sagt er nach all den Erzählungen. Keine einzige Antwort hat er erhalten, aber er fühlt sich befreit und sein Kopf fühlt sich durchaus geordneter an. 

„Bitte wach bald auf", bittet er sie und drückt ihr zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. Dann befreit er seine Hand aus ihrer, die er die ganze Zeit gehalten hat. Dann geht er aus der Tür, nicht ohne nochmal zurückgesehen zu haben. Ein trauriges Lächeln bildet sich auf seinen Lippen, als er die Frau im Bett liegen sieht. Sie wird aufwachen. Irgendwann.


Vorsichtig klopft Joel an Alvas Zimmertür. Sie liegt auf ihrem Sitzsack und liest ein Buch, als sie „herein" ruft und Joel die Tür aufschiebt. 

„Hey, wie wars?", fragt Alva direkt, als sie ihren Bruder erkennt und legt das Buch zur Seite. 

„Ein wenig einsam", meint Joel und setzt sich neben seine Schwester. 

„Kann ich mir vorstellen", stimmt sie zu und breitet ihre Arme aus. Joel kuschelt sich direkt zu ihr und legt den Kopf auf ihre Schulter. Alva lehnt sich zurück und kurz ruckeln und rutschen die beiden, bis sie eine bequeme Position zum Liegen gefunden haben. 

„Du warst lange bei ihr", meint Alva nur. Es ist eine einfache Feststellung. 

„Ja. Ich hab ihr viel erzählt. Von dir, von den Kleinen, von Colin. Und auch von Noah", erzählt Joel ihr. Alva beginnt ihm durch die kurzen braunen Haare zu fahren. 

„Du bist nicht begeistert von ihm, oder?". Wieder eine Feststellung. Alva kannte ihn zu gut, konnte ihn lesen wie ein offenes Buch. 

„Er ist einfach so arrogant", erklärt er, „und nervig und großkotzig". 

„Davon zeigt er aber nicht viel". 

„Nicht dir gegenüber. Aber mir schon. Nur mir. Dabei hab ich ihm nie etwas getan und trotzdem giftet er mich an". Alvas Brust bebt leicht, als sie beginnt zu lachen. 

„Du bist auch manchmal sehr stur, Jeoli. Vielleicht eckt ihr einfach zu sehr an. Du bist impulsiv, er ist impulsiv, da streiten sich die Gemüter mal", erklärt sie dann. Joel löst sich von ihr und schaut sie vorwurfsvoll an. 

„Du bist keine große Hilfe, Alva". 

„Ich sage nur, dass ihr einen Neustart braucht. Beide". 

Gleichgewicht || NolinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt